Zitat von Gast am 4. Oktober 2023, 10:36 Uhr
Gastbeitrag von Gabor Steingart - Krieg, Flüchtlinge, Inflation - und trotzdem passiert in Europa gerade Erstaunliches
Gerade entsteht ein neues, wehrhaftes Europa. Media Pioneer.© Media Pioneer.
Orbán, Erdoğans Türkei und die USA setzen Europa unter Druck. Doch die schwierige Lage hat auch ihr Gutes. Denn die Kerneuropäer – Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Österreich, die Niederlande und Luxemburg – rücken politisch zusammen.
Der alte Sponti-Spruch „Du hast keine Chance, also nutze sie“ gilt auch im Europa dieser Tage.
Die politische Klasse des Kontinents wirkt merkwürdig aufgekratzt, obwohl Europa an seiner Ostflanke militärisch angegriffen, an der Südgrenze von einem Flüchtlingsstrom herausgefordert und im Innern durch Geldentwertung gepeinigt wird.
Als wäre das nicht schon der Herausforderung genug, kommen drei falsche Freunde hinzu, die Europa unter Druck setzen:
Der falsche Freund Nummer 1 ist Viktor Orbán , der im neuen slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico einen Mitstreiter gefunden hat. Er spielt mit Putin und gegen die EU. Er verweigert sich den westlichen Sanktionen und wird für diesen Opportunismus in Moskau mit günstigen Energiekontrakten belohnt. Viktor Orbán ist der Brutus der europäischen Wertegemeinschaft.
Auch Amerika ist ein fragwürdiger Freund geworden
Gleichzeitig erhöhte die Türkei ihre Ölimporte aus Russland von durchschnittlich 98.000 Barrel pro Tag in 2021 auf 200.000 Barrel im Jahr 2022. Das Magazin Foreign Policy spricht von Erdoğans „Deal mit dem Teufel“.
Und drittens: Auch Amerika ist ein fragwürdiger Freund der Europäer geworden. Unter dem Druck der Republikaner hat US-Präsident Joe Biden seinen Haushaltskompromiss damit erkauft, dass die USA vorerst keine weitere Unterstützung für die Ukraine bereitstellen. Damit ist der größte Finanzier des Anti-Putin-Paktes fürs Erste entfallen.
Doch die Geschichte kennt – anders als der Groschenroman – stets mehrere Handlungsstränge, die oft virtuos miteinander verwoben sind. „Die Geschichte ist ein ständiger Dialog zwischen Fakten und Interpretation“, so hat der Historiker Eric Hobsbawm die ewige Abfolge von Paradoxien beschrieben.
Kompression in Kerneuropa
Denn gerade dieser Druck einer feindlichen Umwelt sorgt in Kerneuropa für Kompression. Das Zusammentreffen von russischem Militarismus, amerikanischem Isolationismus und osteuropäischem Opportunismus zwingt die Kerneuropäer – Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Österreich, die Niederlande und Luxemburg – zu politischer Intimität.
Inmitten des europäischen Stahlgewitters wird – wenn die Presswehen weiter glücklich verlaufen – Großes geboren.
Erst in den vergangenen Tagen gab es fünf ernstzunehmende Hinweise, dass wir keineswegs den kleinlauten Rückzug auf das Europa der Vaterländer erleben, sondern inmitten dieses historischen Unwetters das Europa der Europäer heranreift – und sei es nur als Embryo. Schemenhaft erkennen wir ein neues, ein wehrhaftes Europa.
1. Die Ukraine wird nicht geopfert.
Das erste Mal haben sich am Wochenende die Vertreter aller 27 EU-Staaten außerhalb der EU getroffen – und zwar in Kiew. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock spielte hier eine zentrale und zwar eine zentral positive Rolle, da sie, trotz einer schwankenden öffentlichen Stimmung, nicht bereit ist, die Ukraine zu opfern.
Sie forderte einen „Winterschutzschirm“, der die Zivilbevölkerung und die Energieversorger vor russischen Raketen schützen soll, damit nicht wieder Millionen frieren und hungern. Im vergangenen Winter hatte Putin gezielt Elektrizitätswerke angegriffen.
Gerade auch vor dem Hintergrund ihrer pazifistischen Herkunft wirkt Baerbocks Einsatz für eine robuste Außenpolitik stilbildend. Ihre Standfestigkeit macht auch europaweit den Wackelkandidaten das Wackeln schwer.
2. Die EU-Erweiterung wird vorbereitet.
Der letzte EU-Beitritt war der von Kroatien – vor zehn Jahren. Aber wenn sich die Staats- und Regierungschefs Ende der Woche im spanischen Granada treffen, ist die Erweiterung der Europäischen Union, von heute 27 auf dann womöglich 35 Mitgliedsstaaten, zurück auf der Agenda.
Der russische Angriffskrieg hat der Idee einer europäischen Arrondierung entlang der russischen Grenze neue Schubkraft verliehen. Der Beitritt von Albanien, Moldawien und eines Tages der Ukraine bedeutet unter der neuen krisenhaften Beleuchtung keine Randaktivität mehr, sondern wäre das Symbol einer neuen demokratischen Wehrhaftigkeit. In Grenada müssen dafür die Vorbereitungen getroffen werden, denn eine EU der 35 kann mit dem Einstimmigkeitsprinzip nicht funktionieren. Europa darf also nicht nur größer, sondern muss auch effektiver werden.
3. Finanzielle Seriosität wird nicht erreicht, aber angestrebt.
Begünstigt durch die jahrelange Geldflutungspolitik der EZB reichte der Funke steigender Energiepreise, um die Inflation zu entfachen. Aber mittlerweile hat die EZB begriffen, dass die Geldentwertung nicht nur die Staatshaushalte, sondern auch die europäische Idee unterspült.
Die Peitsche der Zinspolitik wirkt: Italien muss in 2023 rund 100 Milliarden an Zinsen bei seinen Schuldnern abliefern. Auch Deutschland muss mit einem Anstieg der Zinszahlungen von 15,3 Milliarden in 2022 auf knapp 40 Milliarden Euro in 2023 eine Art Strafgebühr für die Schuldenpolitik der vergangenen Jahre entrichten. Das wirkt – hoffentlich – disziplinierend.
4. Energie-Autonomie wird nicht erreicht, aber vorangetrieben.
Dank staatlicher Hilfen aus dem Programm REPowerEU scheint die Transformation der Energieversorgung zu gelingen. So senkte die EU den Anteil russischen Pipeline-Gases von 50 Prozent der gesamten Gas-Einfuhren im Jahr 2021 auf weniger als 10 Prozent im laufenden Jahr ab.
Die Öl-Einfuhren aus Russland sind von 27 Prozent auf sechs Prozent zurückgegangen, derweil die Kohle-Einfuhr nun sogar bei null liegt – kommend von 46 Prozent im Jahr 2021. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung beträgt europaweit mittlerweile fast 40 Prozent.
5. Die Leitmedien polarisieren und polemisieren – aber nicht gegen Europa.
Länderübergreifend gibt es einen nirgendwo fixierten Konsens der Medien, dass die Zukunft nicht der Kleinstaaterei gehört. Von der deutschen Bild über Frankreichs Le Monde bis zur britischen Financial Times wird die europäische Idee verteidigt, oft auch gegen die Übergriffigkeit der Brüsseler Bürokraten.
Der Gedanke, dass hier zusammenwächst, was zusammen gehört, hat sich bei den Leitmedien durchgesetzt. Der Economist fordert in dieser Woche: „So verheerend die Umstände des Krieges sind, sie schaffen den Impuls für eine EU, die größer und besser sein wird.“
Fazit: Auch wenn sich die Rattenfänger rechts und links des Weges postiert haben, will die Mehrzahl der Europäer erkennbar nicht zurück in ihre Geschichte. Der Satz des Friedrich Hegel – „Die Geschichte lehrt uns, dass die Geschichte uns nichts lehrt“ – wird vor aller Augen ungültig gestempelt. Wir sollten seinen Irrtum nicht bedauern, sondern genießen.