Zitat von Gast am 26. September 2023, 05:22 Uhr
Dieses EU-Verbot droht Deutschland ins Chaos zu stürzen
Die EU will sogenannte Ewigkeits-Chemikalien verbieten, auch auf Initiative von Deutschland. Die heimische Industrie warnt dagegen vor einem Pauschal-Verbot und sieht zentrale Ziele des Landes in Gefahr. Sogar die medizinische Versorgung sei kaum aufrechtzuerhalten.
Auch die Medizintechnik-Branche fürchtet das EU-Verbot Getty Images/Shannon Fagan© Bereitgestellt von WELT
Deutschland soll in Zukunft ein wichtiger Standort für die Herstellung von Halbleitern sein. Das ist das erklärte Ziel von Bund und Ländern, die dafür auch reichlich Geld in die Hand nehmen. Rund vier Milliarden Euro Förderung stehen für insgesamt 31 Projekte zur Verfügung, hat das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) kürzlich beim sogenannten Chips-Gipfel vermeldet.
Damit würden „komplexe und investitionsintensive Entwicklungs- und Innovationsprojekte unterstützt, mit denen die Wertschöpfungskette der Mikroelektronik gestärkt und die Fertigung in Deutschland ausgebaut werden soll“, heißt es. Zu den Leuchttürmen gehören dabei vor allem der Bau neuer Chip-Fabriken von TSMC und Intel in Dresden und Magdeburg, durch den die Abhängigkeit von Asien und den USA verringert werden soll und der zudem Tausende neue Arbeitsplätze schafft.
Und die kommen unter anderem in Alltagsgegenständen wie Kleidung, Feuerlöschern oder Pfannenbeschichtungen vor, insbesondere aber in technischen Anwendungen und Prozessen, etwa in Dichtungen, Schläuchen, Armaturen, Pumpen, Ventilen, Kompressoren und Beschichtungen. All diese Bauteile werden durch PFAS höchst resistent gegen Hitze, Abrieb und Druck oder auch gegen Laugen und Säuren.
„Unsere Politik und unsere Regierung werden sehr schnell feststellen, dass Firmen wie TSMC oder Intel sagen, dass sie nicht nach Dresden oder Magdeburg oder wo auch immer hinkommen können, wenn es ein solches Verbot in Europa geben wird“, prognostiziert Rinck. Sein Unternehmen gehört zu den wichtigsten Zulieferern der Chipfirmen.
So verkauft Singulus zum Beispiel Timaris III, eine Ultra-Hochvakuum-Beschichtungsmaschine für die Halbleiterindustrie. „Damit werden Sensoren hergestellt, die in Elektroautos verbaut sind und in Wallboxen, um den Strom zu messen“, beschreibt Rinck, „aber auch Mikrochips für die Automobilindustrie, für Smartphones und Smartwatches, oder für Drohnen.“
PFAS kommen dabei in den Dichtungen der Timaris III zum Einsatz – weil sie entsprechend langlebig sind, verschleißfest, hohe Temperaturen aushalten, einen niedrigen Reibungskoeffizienten haben und dazu eine chemische Beständigkeit auch im Vakuum, wie Rinck erklärt. „Ohne diese Dichtungen funktioniert es nicht. Dann ist die Herstellung von Halbleitern schlicht nicht möglich.“
Aber damit nicht genug, wie Rinck meint, der auch im Hauptvorstand des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) sitzt. Wenn man das geplante Verbot für die Inverkehrbringung solcher Werkstoffe konsequent zu Ende denkt, dürfe in Europa künftig auch kein Chip mehr aus Asien oder Amerika importiert werden, wenn er auf Maschinen mit PFAS-Dichtungen hergestellt wurde.
„Dann läuft in Deutschland aber kein einziges Auto mehr vom Band, weil wir keine Mikrochips mehr haben.“ Gleichzeitig seien aber auch etliche andere Industriezweige betroffen. Zudem können die Energiewende nicht mehr stattfinden, weil PFAS sowohl bei der Herstellung von Solarmodulen genutzt werden müssen, dazu in Windkraftanlagen und bei der Produktion von Wasserstoff.
Die Idee des Verbots stammt aus fünf EU-Staaten
Auf solche Folgen hat Singulus in einem jüngst ausgelaufenen Konsultationsverfahren auch die EU hingewiesen – genau wie Tausende andere Firmen und Wirtschaftsverbände. Allein aus dem Maschinenbau und der Medizintechnik hat rund jedes zweite deutsche Unternehmen eine Eingabe gemacht, melden der VDMA und der Medizintechnik-Branchenverband Spectaris.
„Das zeigt die enorme Betroffenheit von einem solchen Verbot“, sagt Jörg Mayer, der Geschäftsführer von Spectaris. Er sieht nun Hunderte Unternehmen in ihrer Existenz bedroht. Genau wie der VDMA. „Wir haben Firmen, die nach einem PFAS-Verbot allenfalls noch zehn bis 20 Prozent ihres Portfolios auf den Markt bringen dürften, auch weil es praktisch keine Alternativen zu den genutzten Stoffen gibt“, sagt Sarah Brückner, die Abteilungsleiterin Umwelt und Nachhaltigkeit bei Maschinenbauverband. Das aber lohne sich nicht mehr. „Diese Firmen sagen mir, dass sie dann schließen müssen.“
Losgetreten wurde die Idee eines PFAS-Verbots von den Umweltbehörden aus fünf EU-Staaten: Dänemark, Schweden, Norwegen, Niederlande – und Deutschland. Sie haben untersucht, in welchen Anwendungen PFAS vorkommen und welche Gefahren von ihrem Einsatz für Mensch und Umwelt ausgehen.
Das Ergebnis: Es geht um rund 10.000 Stoffe, die sich nach Stand der Wissenschaft in der Umwelt anreichern können und nur sehr langsam abgebaut und deswegen auch als „Ewigkeits-Chemikalien“ bezeichnet werden. Von einem Teil dieser Substanzen weiß man, dass sie schädlich sind, andere sind noch unerforscht. Dennoch haben die fünf Staaten bei der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) ein sogenanntes Beschränkungsverfahren für pauschal alle 10.000 Stoffe eingeleitet.
Es handelt sich nicht um ein reguläres Gesetzgebungsverfahren, das politische Positionierungen der EU-Kommission, des Rates und des Parlaments ermöglicht. Die Institutionen werden erst am Ende des Verfahrens formal eingebunden, ihr Einspruchsrecht ist somit begrenzt. In den kommenden Monaten wird die ECHA nun erst einmal die Eingaben der Unternehmen prüfen und dann einen konkreten Regulierungsvorschlag machen.
Die Bundesregierung gibt sich bislang offenbar gelassen. „Natürlich haben die Verbände auf höchster politischer Ebene gesprochen“, berichtet VDMA-Vertreterin Brückner. „Die Antwort war, dass wir Vertrauen in das Verfahren haben und davon ausgehen sollen, dass es notwendige Ausnahmen geben wird – wir haben aber kein Vertrauen.“ Denn die geplante Regulierung habe schon im entsprechenden Antrag große Schwachstellen.
„Ich mag mir eine Pandemie ohne Beatmungsgeräte nicht vorstellen“
So werde zu Beispiel kein Unterschied gemacht zwischen Anwendungen und Produkten, bei denen PFAS direkt in die Umwelt gelangen können und solchen, bei denen Bauteile mit PFAS tief im Inneren etwa einer Maschine verbaut sind. Zudem werde nicht berücksichtigt, dass es sogenannte „Polymers of low concern“ gibt, die als stabil gelten und sich nicht abbauen, was auch Untersuchungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen. „Sie müssen aus dem Verbot ausgenommen werden“, fordern VDMA und Spectaris.
Andernfalls sehen die Industrievertreter Deutschland und Europa vor dem Chaos – weil mehrere Industriebranchen zusammenbrechen könnten, eine Energiewende unmöglich wird und auch die medizinische Versorgung in Gefahr ist. „Wir haben rund 60 Millionen Krankenhausbehandlungen und 16 Millionen Operationen in Deutschland – die Hälfte davon ist ohne PFAS nicht mehr möglich“, warnt Martin Leonhard, Bereichsleiter Technologie-Management bei Karl Storz, einem der führenden Hersteller für Endoskopie-Systeme.
Gemeinsam mit Spectaris-Chef Mayer mahnt er eine industriepolitisch Folgenabschätzung an, aber auch die Beachtung gesellschaftlicher Verantwortung. Stefan Dräger, der Chef des Medizin- und Sicherheitstechnikkonzerns Drägerwerk, erinnert zudem an die Corona-Zeit. „Ich mag mir eine Pandemie ohne Beatmungsgeräte nicht vorstellen“, sagt Dräger. Solche Geräte könnten bei einem pauschalen PFAS-Verbot aber nicht mehr gebaut werden, ebenso andere Medizintechnikgeräte des Mittelständlers aus Lübeck. „Im schlimmsten Fall würden wir unser Unternehmen schließen.“
Singulus-Chef Rinck hält solche Folgen für Wahnsinn und nennt das aktuelle Vorgehen der EU absurd. „Die ganze Diskussion macht für mich den Eindruck, als würde jemand zu mir sagen: Herr Rinck, wir stellen ihnen morgen den Strom ab, weil wir festgestellt haben, dass Strom gefährlich ist und es tödlich endet, wenn man den Finger in die Steckdose steckt.“ Gleichwohl gebe es kein generelles Stromverbot, weil es entsprechende Schutzmaßnahmen und Isolierungen gibt. Nach dieser Maßgabe müsse jetzt auch überlegt werden, wie man mit PFAS umgeht.