Jaroslaw Kaczynski schürt die antideutsche Stimmung. (Quelle: Kacper Pempel/REUTERS)© T - Online
Guten Morgen liebe Leserin, lieber Leser,
seine Verwandten kann man sich nicht aussuchen, und seine Nachbarn auch nicht. Manchmal versteht man sich prächtig mit den Hausbewohnern nebenan, manchmal pflegt man auch nur eine freundliche Neutralität. Und manchmal gibt es Zoff, und zwar nicht zu knapp. Das Verhältnis zu Nachbarn kann ein großes Spektrum von Zu- bis Abneigung abdecken, das ist normal. Eines aber kommt seltener vor: dass man sich um das Wohlergehen der Menschen nebenan wirklich ernste Sorgen macht.
Die kraftvolle Nachbarnation heißt Polen. Wenn Sie jetzt wissen wollen, warum es einem angst und bange werden kann, während das Land sich augenscheinlich bester Gesundheit erfreut, muss ich Ihnen zunächst ein paar Fragen stellen.
Erst einmal möchte ich von Ihnen ganz offiziell – behördlicherseits sozusagen – folgende Auskunft einholen: "Unterstützen Sie die Aufnahme von Tausenden illegalen Einwanderern aus dem Nahen Osten und Afrika nach dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Mechanismus der verpflichtenden Aufnahme?"
Bevor sich jetzt jemand beschwert, dass sei ja ganz schön tendenziös formuliert: Ich gebe es ja zu. "Tausende" klingt nach einem Ansturm, obwohl es – gemessen an der Größe einer Nation – eine verschwindend geringe Anzahl wäre. "Illegal" tönt ebenfalls gefährlich – ob die Menschen aus gutem Grund geflohen sind, interessiert dagegen nicht die Bohne. Und die mühsam ausgehandelten Kompromisse, die gemeinsame Entscheidung der EU-Mitgliedsstaaten? "Von der europäischen Bürokratie auferlegt". Ach so, na dann. Natürlich kann man kontrovers darüber diskutieren, wie man mit der Migration umgehen soll. Aber über die Frage, die ich Ihnen eben gestellt habe, kann man eines sicher sagen: Neutral gestellt ist sie nicht.
Apropos Suggestivfragen, ich hätte da noch eine: "Unterstützen Sie den Verkauf von Staatsvermögen an ausländische Unternehmen, der zum Verlust der Kontrolle von Bürgerinnen und Bürgern über strategische Wirtschaftsbereiche führt?" Nein, das finden Sie gar nicht gut? Das habe ich mir gedacht. Kein Wunder, wenn man so fragt. Dann verteufeln Sie also Investitionen aus Partnerländern in der EU oder den USA bei zukünftigen Privatisierungs- und Reformvorhaben. Ach, doch nicht? Sie sehen: So formuliert sieht die Sache gleich ganz anders aus.
Die Fragen mit dem Spin habe ich mir nicht selbst ausgedacht. Das hat die polnische PiS-Partei erledigt. Im Parlament hat die Regierungskoalition mit ihrer Mehrheit durchgedrückt, dass ihre populistischen Positionen – in Frageform gegossen – den Bürgern als Begleitprogramm zu den Parlamentswahlen im Oktober vorgelegt werden. Und zwar tatsächlich so formuliert wie oben: ungebremst tendenziös und die rhetorischen Manöver wiederholend, mit denen die PiS ihren schärfsten Konkurrenten im Wahlkampf attackiert. Das ist nämlich der europafreundliche Ex-Premier und Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk.
Oppositionspolitiker Donald Tusk fordert die Regierungspartei heraus. (Quelle: Kacper Pempel/REUTERS)© T - Online
Im Rahmen eines Referendums sollen die Polen Antworten auf die manipulativen Fragen geben. Das Ergebnis hat zwar auf bereits getroffene Beschlüsse wie den EU-Asylkompromiss keinerlei Auswirkung, aber die Fragerei hilft, das Wahlvolk aufzuhetzen, bevor es unmittelbar danach auf dem nächsten Zettel das Kreuzchen für die künftige Regierungspartei macht. Wahlkampf in der Wahlkabine also – und nur zugunsten einer Seite. Mit solchem Schwung werden in Polen die Prinzipien einer fairen Abstimmung über Bord geworfen, dass man das erst mal einen Moment sacken lassen muss.
Nun ist es nicht das erste Mal, dass die PiS an den demokratischen Grundfesten herumhantiert, um ihre Macht zu sichern. Die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben und den obersten Gerichtshof mit den eigenen Leuten auszustaffieren gehört genauso zu ihrer Strategie wie Attacken auf unabhängige Medien. Mit der EU hat Polens Regierung deshalb Dauerzoff. Bremsende Wirkung entfalten die Sanktionen aus Brüssel aber nicht.
Unbeirrt schieben die PiS und ihr Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski, von dem die Idee des Referendums stammt, die Grenzen des Akzeptablen immer weiter hinaus. Nach seiner Lesart sind die eigentlich Bösen in der ganzen Geschichte natürlich andere: nämlich wir. Es ist Ihnen vielleicht neu (ich war auch ganz baff), aber die willfährige Marionette Deutschlands, also Oppositionsführer Tusk, würde im Fall seines Wahlsieges den Ausverkauf Polens an die Deutschland GmbH organisieren. Sagt jedenfalls Herr Kaczynski. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, ebenfalls von der PiS, legt prompt nach und schmäht seinen Konkurrenten als größte Gefahr für die Sicherheit Polens. Sie haben richtig gehört: Das sei nicht Putin, sondern Herr Tusk.
Nun mag man solche abstrusen Behauptungen als Wahlkampfgetöse abtun. Aber irgendwas bleibt immer hängen. Die antideutsche Propaganda der PiS hat nämlich Tradition. Sie vergiftet das Verhältnis eines erheblichen Teils der polnischen Bevölkerung zum Nachbarn im Westen, während im Innern die demokratischen Grundmauern des Staates abgetragen werden. Deutschland wolle die EU in ein "Viertes Deutsches Reich" verwandeln, behauptete Herr Kaczynski mal.
Es ist zum Haare raufen: Polen könnte eine strahlende Erfolgsgeschichte und eine Bereicherung für die Gemeinschaft in Europa sein. Stattdessen bringt der aktuelle Kurs das enorme Potential des Landes in Gefahr. Bei der Parlamentswahl am 15. Oktober wird darüber entschieden, ob unser wichtiger, oft auch unterschätzter und zu wenig wahrgenommener Nachbar aus dem undemokratischen Sumpf wieder herausfindet – oder ob er noch tiefer darin versinkt.
Die PiS liegt in den Umfragen übrigens vorn. Optimismus ist ja immer gut. Aber dass wir uns um unseren Nachbarn echte Sorgen machen, ist diesmal leider angebracht.
Ministerpräsident Mateusz Morawiecki diffamiert seinen Gegner. (Quelle: Kacper Pempel/REUTERS )© T - Online