Mitten in der EU
Deutsche Unternehmen schlagen Alarm: Enteignung ausländischer Firmen in Ungarn greift um sich
In Ungarn beklagen ausländische Unternehmen immer häufiger massive Rechtsverstöße durch die Behörden. Selbst vor Enteignungen sind ausländische Eigentümer nicht mehr gefeit.
Berlin – Mitten in der EU spielt sich Unglaubliches ab. Immer mehr ausländische Unternehmen in Ungarn berichten von einem politischen System, das auf ihre Enteignung abzielt. Es ist die Rede von hohen Sondersteuern, die diskriminierend nur ausländische Unternehmen treffen; von Blockaden, die sie vom Wachstum abhalten; von Dekreten, die Preise festsetzen; und von Staatsanwälten, die unversehens Hausdurchsuchungen bei Mitarbeitern ausländischer Firmen anordnen. All das passiert in der Europäischen Union – die fast tatenlos zusieht.
Für diesen Artikel hat IPPEN.MEDIA mit mehreren Unternehmen gesprochen. Sie gehören verschiedensten Branchen an: Baustoffindustrie, Energiewirtschaft, Telekommunikation, Lebensmittelhandel, Transport. Die meisten wollten nur unter der Bedingung sprechen, dass ihre Namen anschließend nicht genannt werden. Viele weitere lehnten eine Stellungnahme vollständig ab - aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der ungarischen Regierung und davor, dass sich ihre Lage noch weiter verschlechtern könnte.
Seit Corona-Pandemie: Orbán regiert mit Notstandsverordnung durch
Mit dem Aufstieg Orbáns änderte sich für die Unternehmen erstmal recht wenig. Zwar beobachteten auch sie einen Wandel: Medien wurden von Oligarchen aufgekauft und pseudo-verstaatlicht, die Justiz ausgehebelt, Orbáns Freunde und Familie in wichtige Positionen gehievt. Für ausländische Investoren blieb das Land aber grundsätzlich attraktiv.
Viktor Orban© Georg Hochmuth/APA/dpa
Der Bruch geschah im Jahr 2021, ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie. Diese nutzte Orbán aus für einen alten Trick: Er kann jetzt, auch noch 2023, durch eine Notstandsverordnung per Dekret durchregieren. Die Regierung kann den Notstand ohne Zustimmung des Parlaments verlängern. Ungefähr ab diesem Zeitraum wird es auch für Firmen in Ungarn eng. Orbán selbst kündigte es auch an: Die Wirtschaft müsse in ungarische Hände gelangen. Es sollten „nationale Champions“ geschaffen werden. Der Anteil ausländischer Unternehmen müsse reduziert werden, sagt Orbán mehrmals öffentlich.
E.ON, HeidelbergCement & Co: Auch Dax-Riesen in der Bredouille
Die Firma Heidelberg Materials hat bereits in den 1990er Jahren damit begonnen, in Ungarn Zement zu verkaufen. 2022 erhielt der Dax-Konzern ein Übernahmeangebot, das er ablehnte. Im Gegenzug wurde gegen HeidelbergCement eine 90-prozentige Bergbauabgabe verhängt. Jetzt schreibt die ungarische Tochter Verluste. Auch die Preise für Zementprodukte werden mittlerweile quasi vom Staat vorgegeben. Wie lange das Unternehmen das noch durchhält, ist offen. „Wir sind aber bereit zu kämpfen“, sagt ein Firmen-Manager.
Auch das Energieunternehmen E.ON fühlt sich in Ungarn nicht mehr willkommen. Im Mai 2023 sprach der Geschäftsführer von EON Hungaria, Guntram Würzberg, mit dem ungarischen Portal Portfolio. Man sei bereit, eine Milliarde Euro in die Modernisierung der ungarischen Infrastruktur zu investieren, sagte Würzberg damals - vorausgesetzt, es gebe „vernünftige und faire Investitionsbedingungen“.
Das ist keine Selbstverständlichkeit mehr. So wurde EON 2022 per Dekret dazu verpflichtet, den wirtschaftlich angeschlagenen Stahlunternehmen Dunaferr mit Strom zu beliefern – „im Grunde unentgeltlich“, sagt Würzberg. Für EON bedeute das nun Verluste im Wert von zehn Prozent des Jahresumsatzes. Gespräche über eine mögliche Kompensation laufen den Angaben zufolge bisher ins Nichts.
Weitere Unternehmen, die anonym bleiben möchten, haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Erst kam das „Übernahmeangebot“, das sie ablehnten, dann begann die Drangsalierung. Durch Notstandsdekrete werden sie vom Wachstum abgehalten. Von einigen Firmen ist bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Büroräume und private Räume durchsuchen ließ.
EU hat bei Ungarn zu lange gezögert
Der Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft sieht die Entwicklung mit wachsender Sorge. Immer mehr Unternehmen und Branchen seien betroffen, heißt es. Durch die Maßnahmen der ungarischen Regierung – Sondersteuern, Blockade, Blockaden, etc. – sei die Investitionssicherheit in Ungarn für deutsche, aber auch für österreichische, französische Firmen gefährdet, erklärt ein Verantwortlicher für Ungarn-Themen gegenüber IPPEN.MEDIA. „Viele Unternehmen stellen sich in Ungarn inzwischen die Frage: Bin ich in Ungarn erwünscht? Wenn ja, wie lange noch?“
Eine Lösung ist nicht in Sicht. Den größten Hebel gegen die ungarische Regierung hätte vor allem die EU. Doch die europäische Gegenwehr kommt spät und schleppend: EU-Gelder werden teilweise eingefroren und es laufen Vertragsverletzungsverfahren. Aber es dauert.
In einer Resolution des Europäischen Parlaments vom Juni heißt es: „Das Parlament ist entsetzt über Berichte von Einschüchterungsversuchen, wie solche, dass die Geheimpolizei die Firmensitze mancher Unternehmen besucht sowie andere Methoden, die darauf abzielen, Druck auszuüben“. Weiter schreibt das Parlament, dass es „mit Sorge feststellt, dass eine wachsende Zahl an Unternehmen in die Hände von ungarischen Oligarchen fallen“. Das Thema ist also bekannt. Die Frage ist nur: Wie viele Firmen sind in Ungarn noch da, bis die EU wirksam durchgreift?