Verfehlte Wirtschaftspolitik
Ex-Notenbankchef sieht „finstere Phänomene“ in Ungarn – „Chancen für EU-Austritt sind gestiegen“
Zwischen Victor Orbán und der EU kriselt es schon lange. Laut Orbáns ehemaligem Notenbankchef wird ein EU-Austritt Ungarns immer wahrscheinlicher.
Budapest – Die EU und Viktor Orbán haben große Differenzen, was immer wieder deutlich zutage tritt. Ob Migration, LGBTQ, Demokratieverständnis oder Sanktionen gegen Russland, die Ansichten könnten oft nicht unterschiedlicher sein. Ein weiterer Streitpunkt sind finanzielle Fragen. Korruption grassiert in Ungarn, die Inflationsrate ist mit fast 26 Prozent im März die höchste innerhalb der EU, genau wie der Leitzins von 13 Prozent. Zudem hat das ungarische Haushaltsdefizit im letzten Jahr einen Rekordwert erreicht.
Gleichzeitig warten EU-Finanzhilfen von mehr als 30 Milliarden Euro darauf, ausgezahlt zu werden. Das knüpft die EU jedoch an Bedingungen: Ungarn soll mehr für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit im Land tun; Bestechung und Vetternwirtschaft müssen eingedämmt werden. Falls sich die finanzielle Lage nicht stabilisiert, könnte ein Austritt des Landes aus der EU ein mögliches Szenario werden.
Victor Orbán vor einer EU-Fahne. - Wien 07.07.2023© IMAGO/photonews.at/Georges Schneider
„Unorthodoxe“ Wirtschaftspolitik – Orbán mischt gerne in der Zentralbank mit
Simor weiß, wovon er spricht, er war zwischen 2007 und 2013 Chef der ungarischen Zentralbank und hat geholfen, Ungarn aus der Finanzkrise zu helfen, die das Land von 2008 fest im Griff hatte. Ungarn war damals in Zahlungsschwierigkeiten geraten, wurde jedoch mit einem Notkredit in Höhe von 20 Milliarden Euro vor dem Staatsbankrott gerettet. Die dafür von den Geldgebern IWF und EU geforderte Austeritätspolitik hatte den Aufstieg der rechten Fidesz, der Partei Orbáns, begünstigt. András Simor, der von der links-liberalen Vorgängerregierung ernannt worden war, hatte sich gegen die vom frisch gewählten Victor Orbán geforderte Zinssenkungen gestellt und die Unabhängigkeit der Notenbank hochgehalten.
Infolgedessen wurde sein Mandat 2013 nicht erneuert. Orbán setzte statt Simor den damaligen Wirtschaftsminister György Matolcsy ein. Das neue Rezept gegen die Krise war eine sogenannte „unorthodoxe“ Wirtschaftspolitik. Die Zinsen in Ungarn wurden gesenkt. Internationale Konzerne mussten mehr Steuern zahlen, um das Defizit auszugleichen und Reformen zu vermeiden. Zwar hatte Orbán angekündigt, dass die Zentralbank unabhängig bleiben werde. Dann brachte er jedoch Gesetzesänderungen ein, die ihm erlauben, durch das Besetzen von Führungspositionen Einfluss zu nehmen.
Niedrige Zinsen und schrumpfende Volkswirtschaft – Orbáns Plan läuft schief
Mit den Wahlen 2014 am Horizont drängte Orbán damals auf eine lockere Geldpolitik, um die Rezession zu bekämpfen. Investoren vermuteten, dass Matolcsy die Notenpresse auf Hochtouren laufen lasse. Die Zentralbank senkte die Zinsen immer weiter ab, 2012 schrumpfte Ungarns Volkswirtschaft um 1,7 Prozent. Schon damals hatten Analysten gewarnt, dass übermäßige Zinssenkungen oder andere unkonventionelle Maßnahmen die Stabilität der Landeswährung Forint in Gefahr bringen könnten. Wegen Eingriffen in die Unabhängigkeit der Zentralbank leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Die Volkswirtschaft Ungarns hat sich davon nie ganz erholt. Zurzeit erlebt das Land die schwerste wirtschaftliche Krise seit 2008/2009.
Im Dezember letzten Jahres kritisierte schließlich auch Matolcsy die Wirtschaftspolitik der vergangenen zehn Jahre massiv, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete. Die Folgen der von ihm ehemals mitgetragenen „unorthodoxen“ Wirtschaftspolitik von Orbáns Partei Fidesz seien unübersehbar. Falsche Entscheidungen hätten dazu geführt, dass die Inflationsrate so hoch sei und sich Ungarn einer tiefen Krise nähere. Die Produktivität des Landes lasse zu wünschen übrig. Haushalts- und Zahlungsbilanzdefizit seien erheblich. Preisdeckel auf Benzin und Lebensmittel – laut der Regierung ein ‚Schutzmechanismus‘ für Familien“ – würden die Inflation antreiben. Zudem verbrauche Ungarn als einziges Land mehr Öl und Gas als vor der Energiekrise. Kurz darauf wurde der Preisdeckel gekippt.
Katastrophale Entwicklung Ungarns – „Orbán-Regierung noch nie in einer so schwierigen Situation“
„Orbán interessiert sich für die Entwicklung der ungarischen Wirtschaft, solange sie der Popularität seiner Partei dient“, sagte András Simor der regierungskritischen ungarischen Zeitung Népszava. Es stimme schlicht nicht, wenn Orbán behaupte, die katastrophale Entwicklung Ungarns sei durch den Ukraine-Krieg oder die EU-Sanktionen hervorgerufen worden.
Schuld sei vielmehr die dauerhafte Abwertung des Forint sowie die verfehlte Zins- und Preispolitik. Die ungarische Wirtschaft habe zwar BIP-Wachstum, Exporte und eine niedrige Arbeitslosenquote, eigentlich positive Indikatoren. Dahinter stünden jedoch „finstere Phänomene“: Korruption auf Rekordniveau, der Verlust von Arbeitnehmerrechten, der Zusammenbruch von Bildung und Gesundheitswesen.
„Tatsächlich war die Orbán-Regierung noch nie in einer so schwierigen Situation“, stellte der Politologe Peter Kreko vom linksliberalen Budapester Institut „Political Capital“ der Deutschen Welle gegenüber fest. Große Hoffnungen auf eine andere Politik hat er nicht. Orbáns Umfragewerte seien schlecht, die Regierung aber sehr gut darin, Probleme auf andere, zum Beispiel die EU, abzuwälzen.
Es liege „nicht im Interesse Orbáns, den Nepotismus und die Korruption“ abzuschaffen. Daher solle man sich keine Illusionen über eine Kompromissbereitschaft in puncto Rechtsstaatlichkeit machen. Illiberale Systeme würden sich in wirtschaftlich schwierigen Situationen weiter verschließen. Ungarn werde wahrscheinlich weiter im Konflikt mit der EU und außenpolitisch isoliert bleiben.