ARCHIV: Bundesfinanzminister Christian Lindner während der wöchentlichen Kabinettssitzung im Kanzleramt in Berlin, Deutschland© Thomson Reuters
Brüssel/Berlin (Reuters) - Die EU-Kommission will die europäischen Schuldenregeln schnell überarbeiten. Der Kern sind dabei individuell ausgehandelte Abbaupfade für EU-Staaten mit zu hohen Haushaltsdefiziten und Schuldenständen - statt bislang pauschaler Vorgaben.
EU-Länder sollen künftig in der Regel in einem Zeitraum von vier Jahren ihre Werte verbessern müssen. Außerdem sollen Maßnahmen ergriffen werden, damit es mittelfristig keinen Rückfall zu höheren Defiziten und Schuldenständen gibt. Bundesfinanzminister Christian Lindner äußerte sich kritisch: Die Pläne seien noch nicht zustimmungsfähig, sagte der FDP-Chef in Berlin. Es brauche mehr Verlässlichkeit beim Abbau der hohen Schulden.
Wegfallen würde die sogenannte Zwanzigstel-Regel. Diese sieht bisher vor, dass Euro-Länder mit einer Schuldenquote von über 60 Prozent der Wirtschaftsleistung jedes Jahr ein Zwanzigstel der Differenz zwischen 60 Prozent und der tatsächlichen Quote abbauen müssen. Das überfordert vor allem hoch verschuldete EU-Mitglieder.
Die 27 EU-Staaten haben sehr unterschiedliche Schuldenstände. Entsprechend schwierig ist es, hier Einstimmigkeit für eine Reform zu erzielen. Am höchsten ist der Schuldenstand mit über 170 Prozent in Griechenland. Italien kommt auf 145 Prozent, ebenfalls sehr deutlich über der eigentlichen Obergrenze von 60 Prozent. In Estland sind es dagegen nur 19 Prozent, in Bulgarien 22 Prozent. In Deutschland wird dieses Jahr mit einem Schuldenstand von 67,75 Prozent gerechnet, der dann bis zum Jahr 2026 auf 65,5 Prozent sinken dürfte.
Die Haushaltsdefizite sollen nach den Brüsseler Plänen weiter grundsätzlich maximal drei Prozent der Wirtschaftsleistung betragen. Länder, die dieses Ziel reißen, müssen dann jedes Jahr um mindestens 0,5 Punkte reduzieren, bis der Wert wieder eingehalten wird. Nach den mehrjährigen Anpassungsphasen sollen die Defizite ohne Sondermaßnahmen zehn Jahre unter drei Prozent bleiben.
LINDNER SKEPTISCH - SPD UND GRÜNE OFFENER
Die Vorschläge der Brüsseler Behörde entsprächen noch nicht den Anforderungen der Bundesregierung, sagte Lindner. Es werde keine automatische Zustimmung geben. "Es braucht noch deutliche Anpassungen." Fortschritte seien aber erkennbar, weswegen sich die Debatte lohnen werde. Beim Treffen der EU-Finanzminister in Stockholm am Freitag und Samstag werde es einen ersten Gedankenaustausch dazu geben, aber noch keinen Durchbruch. "Das wird noch Zeit beanspruchen."
Die aktuellen Schuldenregeln sind seit 2020 zunächst wegen der Corona-Pandemie, später wegen der Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine ausgesetzt. Sie sollen ab Anfang 2024 wieder greifen. Deswegen will sich die EU noch dieses Jahr auf eine Reform verständigen.
Lindner betonte, die alten Regeln hätten Bestand, bis es eine Reform gebe. Die Vorschläge der Kommission bezeichnete er als wichtigen Schritt. Deutschland werde diese genau prüfen und sich konstruktiv einbringen. Eine Aufweichung der Schuldenregeln könne Deutschland jedoch nicht mittragen. "Wir müssen von den hohen Schulden runter." Dafür brauche es klare und verlässliche Regeln, die auch umgesetzt würden. "Uns fehlen numerische Vorgaben." Auch Haltelinien - eine Art zusätzliches Sicherheitsnetz - seien noch nötig.
Offener zeigten sich die Ampel-Partner: Es sei höchste Zeit für eine Reform des sogenannten Stabilitätspakts, sagte SPD-Fraktionsvize Achim Post. Der Vorschlag baue Brücken zwischen den unterschiedlichen Positionen innerhalb der EU. "Natürlich wird es jetzt auf Basis des Kommissionsvorschlags noch weiterer Diskussionen bedürfen." Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte, die EU-Staaten bräuchten einen finanziellen Spielraum für den Umbau der Wirtschaft Richtung Klimaneutralität. Laut Grünen-Politiker Danyal Bayaz darf Deutschland nicht zum Dauerblockierer werden, es brauche eine schnelle Reform.