Einen baldigen und unkomplizierten EU-Beitritt der Ukraine kann man sich nur schwer vorstellen. Geplagt von tiefgreifenden strukturellen Problemen - ganz zu schweigen von Russlands zermürbender Invasion - könnte es viele Jahre dauern, bis das Land der Europäischen Union beitreten kann.
Dennoch ist der ukrainische Beitritt ein aktuell diskutiertes Thema, und unter Analysten und politischen Entscheidungsträgern toben Debatten darüber, was ein Beitritt des umkämpften Landes in der Praxis bedeuten würde.
Das Gravitationszentrum würde sich nach Osten verlagern
Die Ukraine, in der rund 40 Millionen Menschen leben, würde im Falle eines Beitritts zum fünftgrößten Mitglied der Union und zur größten Landmasse aufsteigen.
Dies hätte erhebliche geopolitische Auswirkungen und würde den Weg für eine neue Achse Warschau-Kiew ebnen, die mit der traditionellen Achse Paris-Berlin konkurrieren könnte, so Professor Michael Keating von der Universität Aberdeen in Schottland.
Weil der "alte deutsch-französische Motor nicht mehr das ist, was er einmal war... könnten wir sicherlich eine große Verschiebung des Kräfteverhältnisses innerhalb der EU erleben", sagt er gegenüber Euronews, obwohl die Ukraine selbst "nicht sehr mächtig" wäre.
Schon jetzt gibt es innerhalb der EU heftige Auseinandersetzungen zwischen westlichen und südlichen, östlichen und nördlichen Staaten über den Charakter der Union und seiner Ziele.
Die relativ neuen Mitglieder Ungarn und Polen - beide sind im Jahr 2004 beigetreten - sind Brüssel ein besonderer Dorn im Auge. Sie wurden bereits wegen Untergrabung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sanktioniert.
Auch Geld spielt eine Rolle
Schon bevor der Krieg ihre Wirtschaft in den Ruin trieb, war die Ukraine eines der ärmsten Länder Europas. Das Pro-Kopf Bruttoinlandsprodukt lag 2021 bei 4.451 Euro - mehr als zehnmal weniger als in fortgeschrittenen europäischen Volkswirtschaften wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland.
Nach Ansicht von Jolyon Howorth, Havard-Professor für europäische Politik, würde die Integration eines so geschundenen und zerschlagenen Landes "horrende Kosten" verursachen.
Eine Integration könnte die EU-Finanzen belasten und möglicherweise Gelder von ärmeren Mitgliedsstaaten wie Polen, Griechenland, Ungarn und Rumänien abziehen, die 2022 alle Nettoempfänger waren.
Doch das hat es schon einmal gegeben. Begleitet von "ein wenig Murren" derjenigen, die Geld verloren haben, habe sich die EU-Finanzierung auch 2004 und 2007 mit der EU-Erweiterung nach Osten und Süden verändert.
"Das ist Teil des normalen Anpassungsprozesses", so Keating gegenüber Euronews. "Sie verlieren Mittel, weil sie sich entwickeln. Das ist kein großes Problem. Es ist schwierig, sich darüber zu beschweren, dass sie reicher werden."
Ukrainische Arbeitskräfte in Polen
Langfristig könnte die Ukraine von einem Beitritt in die EU, dem reichsten Handelsblock der Welt, wirtschaftlich profitieren, insbesondere durch die Anziehung ausländischer Investitionen.
Außerdem könnten die EU-Aufnahmekriterien die Ukraine dazu bringen, tief sitzende strukturelle Probleme wie die Korruption, ein endemisches Übel in dem Land, anzugehen.
Professor Keating warnt jedoch auch: In vielen Staaten habe die EU-Mitgliedschaft die regionalen Ungleichheiten verstärkt. Die Bewohner der Region um die litauische Hauptstadt Vilnius beispielsweise haben ein fast dreimal so hohes Pro-Kopf-BIP wie die Bewohner der ärmsten Region des Landes.
Ähnliches sei auch in der Ukraine denkbar, so Keating. Wenn Investitionen sich auf den Großraum Kiew konzentrieren, könnten die Regionen im Osten, wo die politischen Spannungen am größten sind, noch stärker an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Kurzfristig, so Havard-Professor Howorth, sei es "fast unvermeidlich", dass es zu Migrationsströmen aus der Ukraine komme. Jeder Massenzustrom ukrainischer Arbeitskräfte birgt das Risiko einer möglichen politischen Gegenreaktion in den bestehenden Mitgliedsstaaten - unabhängig von ihrem wirtschaftlichen Beitrag.
Großbritannien, das damals einen Boom erlebte, war eine der einzigen großen Volkswirtschaften, die die Zahl der osteuropäischen Arbeitskräfte nicht begrenzt hat. Später im Zuge des Brexit-Votums wurde die Einwanderung zu einem umstrittenen. Und das trotz der positiven wirtschaftlichen Auswirkungen der europäischen Einwanderer auf das Land.
Aber Keating sagt: "Das war schon vorher der Fall. Polen war schon vor dem Krieg voll mit Ukrainern. Die Arbeitsmärkte in den westlichen Ländern brauchen diese Arbeitskräfte." "Allerdings", räumt er ein, "stimmen Wirtschaft und Politik nicht immer überein."
Was sind die Grenzen Europas?
Der Essayist Jeremy Cliffe schrieb im New Statesman, einem britischen Politikmagazin, dass es gefährlich wäre, die Ukraine im Regen stehen zu lassen. Das könne neue Konflikte hervorrufen.
"Stellen Sie sich eine Ukraine vor, die durch den jahrelangen Krieg strukturell und industriell zermürbt ist, ihre Wirtschaft ist ausgezehrt und die Investitionen sind spärlich, ein gescheiterter Staat im Zeitlupentempo. Die Wähler und die politische Führung sind verärgert über eine Europäische Union, die ihre Versprechen nicht eingehalten hat."
"Verglichen mit diesem Szenario erscheinen die Herausforderungen einer schnellen EU-Erweiterung nicht ganz so unüberwindlich", so Cliffe.
Der Einmarsch Russlands hat die Unterstützung für die EU-Mitgliedschaft unter den Ukrainern noch verstärkt. Laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie wollen 92 % der Ukrainer:innen bis 2030 der Union beitreten. Vor dem Konflikt haben nur 67 % angegeben, dass sie bei einem Referendum über die Mitgliedschaft mit Ja stimmen würden.
Die Debatten über die EU-Mitgliedschaft der Ukraine werfen letztlich tiefgreifende existenzielle Fragen über die Europäische Union auf.
"Erweiterungen stellen immer wieder die Frage des Warum", so Howorth. "Was ist der Zweck einer erneuten Erweiterung? Tun wir sie um ihrer selbst willen? Kann man mehr oder weniger unbegrenzt weiter expandieren?"
"Wenn man der Logik folgt, dass die Europäische Union sich einfach immer weiter ausdehnen kann, dann läuft das schnell aus dem Ruder."
Er weist noch einmal auf die "ungelösten Meinungsverschiedenheiten" zwischen den Mitgliedstaaten hin, darüber, was die Union eigentlich ist. Sie sei auf einer Reise ins Ungewisse, ohne ein klares Ziel.
"Wir haben nie unser Ziel definiert. Wir haben einfach nur gesagt, dass wir losgehen werden. Und ich denke, mit der potenziellen Mitgliedschaft der Ukraine müssen wir eine viel klarere Antwort auf die Frage haben: Was ist der Zweck?