Premier Mitsotakis gibt sich als Reformer, der Griechenland saniert. Tatsächlich regiert er zunehmend wie ein Autokrat. Die EU muss einschreiten.
Griechenlands Weg in die Autokratie: Angriffe auf Rechtsstaat und Pressefreiheit – Kommentar© KENZO TRIBOUILLARD / AFP
Diesen Sommer haben Millionen Europäerinnen und Europäer wieder die hellen Seiten Griechenlands erlebt, die Sonne, die Strände, die Gastfreundschaft. Griechenland ist eines der beliebtesten Ziele für Touristinnen und Touristen in Europa.
Womöglich sind die Regierungen in den anderen europäischen Hauptstädten auch deshalb eher gewillt, über die finsteren Seiten ihres EU-Partners hinwegzusehen. Der Demokratieabbau in
Ungarn und
Polen beschäftigt Gerichte und die EU-Kommission. Dass auch Griechenland unter dem rechtskonservativen Premier Kyriakos Mitsotakis zunehmend in Richtung Autokratie abgleitet, scheint in
Brüssel, Berlin und
Paris bislang hingegen kaum jemanden zu stören.
Mitsotakis inszeniert sich als liberaler Reformer, der sein Land saniert hat. Worüber er nicht so gern spricht, sind die mittlerweile zahllosen Rechtsbrüche, die griechische Beamte unter seiner Führung begehen.
Es kommt so gut wie nie vor, dass sich griechische Beamte für die Verbrechen an der Grenze rechtfertigen müssen. Was hingegen sehr oft geschieht, ist, dass Menschen, die diese Verbrechen dokumentieren, unter Druck geraten.
So hat die NGO Josoor gerade erst die Arbeit eingestellt, nachdem sie über Monate hinweg unter anderem von griechischen Behörden schikaniert worden ist. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen werden als Menschenschmuggler verfolgt. SPIEGEL-Reporter Giorgos Christides wurde in regierungsnahen griechischen Medien als türkischer Agent diffamiert.
Nachdem der SPIEGEL in der vergangenen Woche darüber berichtet hatte, wie eine fünfjährige Syrerin auf einer Insel im türkisch-griechischen Grenzfluss Evros starb, weil ihr die griechischen Behörden jede Hilfe versagten, übte sich die Regierung nicht etwa in Selbstkritik, sondern diffamierte Christides, weil dieser sich angeblich illegal Zugang zu den Eltern des Opfers verschafft hätte. Es ist genau jene Form von Schuldumkehrung, wie man sie von Athen inzwischen kennt.
Griechenland versteht sich selbst als die Wiege der Demokratie. Tatsächlich aber greift Mitsotakis immer häufiger auf die Methoden eines Autokraten zurück.
Er und seine Leute haben die Lüge zu einem Wesenskern ihrer Politik gemacht. So haben der SPIEGEL und andere Medien die illegalen Pushbacks Griechenlands lückenlos dokumentiert. Die europäische Antikorruptionsbehörde hat die Berichte bestätigt. Und dennoch behauptet die griechische Regierung bis heute schamlos, keine Pushbacks durchzuführen.
Sie zersetzt damit das Fundament, auf dem ein demokratischer Diskurs stattfinden kann. Auf dem Pressefreiheitsranking der Organisation Reporter ohne Grenzen liegt Griechenland mittlerweile auf dem letzten Platz in der EU. In einer Reuters-Umfrage sagten nur sieben Prozent der Griechinnen und Griechen, dass die Medien in ihrem Land frei seien.
Zugleich hat sich Griechenland unter Mitsotakis in einen Überwachungsstaat verwandelt. Gerade erst musste der griechische Geheimdienstchef zurücktreten, nachdem bekannt wurde, dass ein führender Oppositionspolitiker und ein Journalist von den Behörden abgehört wurden. Inwieweit Mitsotakis selbst in den Vorgang eingebunden war, ist noch nicht restlos geklärt.
Es liegt zuallererst an den Griechinnen und Griechen, den autoritären Trend in ihrem Land zu stoppen. Spätestens im kommenden Jahr wird in Griechenland gewählt, die Bürgerinnen und Bürger können dort entscheiden, in was für einem Staat sie leben wollen und welche Migrationspolitik ihre Regierung machen soll.
Aber auch die EU ist gefordert. Sie hat Mitsotakis' demokratiefeindliche Politik viel zu lange hingenommen, ja, zum Teil sogar begrüßt. Kommissionschefin Ursula von der Leyen bezeichnete Griechenland bei einem Besuch am Evros im Jahr 2020 als »Europas Schild«. Und in den Mitgliedstaaten ist man insgeheim froh, dass griechische Grenzschützer Geflüchtete abwehren – egal, mit welchen Mitteln.
Als die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock im Juli in Athen war, forderte sie ihre Gastgeber auf, die Pushback-Vorwürfe aufzuklären. Das klang entschlossen, ist jedoch wohlfeil. Denn der Sachverhalt ist längst aufgeklärt. Wenn die EU es mit ihren eigenen Normen ernst meint, müsste sie nun ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Griechenland einleiten.