Rhodos, Kreta, Kos – plötzlich türkisch? Griechenlands Vizeaußenminister Varvitsiotis warnt vor türkischen Großmachtfantasien und vor deutschen Waffen für die Türkei.
© Louisa Gouliamaki/AFP/Getty ImagesKastellórizo ist eine der am weitesten östlich gelegenen griechischen Inseln, sie befindet sich nur drei Kilometer vor der türkischen Küste.
Miltiadis Varvitsiotis wurde 1969 in Athen geboren und ist Rechtsanwalt am Obersten Gerichtshof in Griechenland. Von 2013 bis 2015 war er Minister für Schifffahrt und die Ägäis. Seit Juli 2019 ist er Griechenlands stellvertretender Außenminister für europäische Angelegenheiten.
ZEIT ONLINE: Herr Varvitsiotis, wie groß ist die Gefahr eines echten militärischen Konflikts mit der Türkei um die griechischen Inseln?
Miltiadis Varvitsiotis: Die Türkei hat ihre aggressive Rhetorik gegenüber unserem Land verschärft und ihre Gebietsansprüche im Ägäischen Meer stark ausgeweitet. Bis zum Jahr 2020 gab es den Anspruch, ihre ausschließliche Wirtschaftszone im Mittelmeer auszuweiten und damit das Recht zu bekommen zur Nutzung von Bodenschätzen und zum Fischfang. Seit 2021 aber spricht die Türkei oft vom Mavi Vatan, also der sogenannten Blauen Heimat oder der Meeresheimat. Sie wissen, dass die Regierung in Ankara behauptet, dass die Hälfte des Ägäischen Meeres ihr gehöre und dass viele unserer Inseln ihr und nicht Griechenland gehörten. Diese Ansichten sind allerdings geschichtswidrig und inakzeptabel.
Varvitsiotis: Definitiv befindet sich auf diesen Inseln unser Militär. Es könnte nicht anders sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wir auf der anderen Seite des Meeres die türkischen Streitkräfte vor uns haben, das heißt mehr als eine halbe Million Soldaten. Diese Zahl ist weiterhin so hoch trotz aller anderen Aktivitäten des türkischen Militärs – ob im Irak oder Syrien oder wo auch immer sie in den vergangenen Jahren aktiv waren.
ZEIT ONLINE: Welche Erklärung haben Sie dafür, dass die Türkei ihre Rhetorik derartig verändert hat?
Varvitsiotis: Zweifellos spielt die politische Zukunft des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eine wichtige Rolle, der im kommenden Jahr eine Wiederwahl anstrebt. Gegen Griechenland zu wettern, ist ein beliebtes Motiv von vielen türkischen Politikern. Bemerkenswert ist aber auch, dass die heutige Türkei das Erbe des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk umgestalten möchte. Ich erinnere daran, dass dazu der Vertrag von Lausanne von 1923 gehört, in dem die modernen Grenzen der Türkei festgelegt wurden. Die heutige Regierung in Ankara scheint leider zu glauben, dass die Türkei nicht in ihren bestehenden Grenzen existieren könne. Mit dieser revisionistischen Agenda nimmt jedoch Erdoğan die gesamte türkische Politik in Geiselhaft.
ZEIT ONLINE: Ist das innenpolitisches Theater im Wahlkampf oder eine echte Gefahr?
Varvitsiotis: Man darf nicht vergessen, dass die Türkei in der jüngeren Vergangenheit eine Reihe von militärischen Operationen ausgeführt hat. In Syrien kontrolliert sie nun eine etwa 100 Kilometer weite Zone des Landes im Norden. Im Kurdengebiet des Nordiraks hat die Türkei einen sehr intensiven Einsatz durchgeführt und Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Die Türkei ist militärisch engagiert in Somalia, in Libyen und im Kaukasus. Außerdem möchte ich Sie daran erinnern, dass sie einen Flugzeugträger bauen. Der ist nicht dazu gedacht, ihn im Mittelmeer einzusetzen, sondern um militärische Stärke ausdrücklich zu demonstrieren. Das alles bereitet Sorge, sowohl auf EU- als auch auf Nato-Ebene.
ZEIT ONLINE: Was müsste geschehen, damit dieser Konflikt mit der Türkei in einen echten Krieg mit Griechenland mündet?
Varvitsiotis: Es hängt ausschließlich davon ab, wie sich die Türkei verhält. Wir wollen diesen Kampf nicht. Wir werden nichts unternehmen, was einen Krieg provozieren könnte. Seien Sie sich aber sicher, dass wir uns verteidigen werden, wann immer es nötig ist. Und vor allem werden wir uns nicht irgendwelchen absurden türkischen Ansprüchen beugen. Ich werde auch nicht die Türkei um Erlaubnis bitten, um eine unserer Inseln zu besuchen. Das klingt wie ein Witz, aber es ist Realität. Es gibt viele Beschwerden türkischer Offizieller, weil griechische Minister zu griechischen Inseln nahe unseren östlichen Grenzen fahren. Sogar unserer Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou haben sie das vorgeworfen. Es ist absolut absurd und inakzeptabel.
ZEIT ONLINE: Wie reagieren Sie auf dieses Verhalten?
Varvitsiotis: Zunächst versuchen wir, die ausländischen Regierungen darauf aufmerksam zu machen und das Interesse der internationalen Öffentlichkeit für dieses provokative Verhalten Ankaras zu wecken, das mit guten Nachbarschaftsbeziehungen inkompatibel ist. Darüber hinaus haben wir dieses Jahr die Rüstungsausgaben gesteigert, das Budget wird bei fast vier Prozent unserer Wirtschaftsleistung liegen. Trotzdem versuchen wir, die Gesprächskanäle mit der Türkei offenzuhalten. Ich möchte daran erinnern, dass sich vor drei Monaten der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis mit Präsident Erdoğan getroffen hat, einige Wochen später aber hat Erdoğan gesagt, er würde nie mehr mit ihm sprechen. Wir folgen diesem Vorgehen der Spannung nicht, sondern halten die Tür für einen Dialog offen, ohne Rabatt auf unsere territoriale Souveränität.
ZEIT ONLINE: Können Sie auf die Forderungen eingehen, das griechische Militär von den Inseln abzuziehen?
Varvitsiotis: Nein. Ich möchte auf einen Spruch verweisen: Ich werde meinen Hund nicht umbringen, nur weil der Nachbar über meinen Rasen laufen möchte.
ZEIT ONLINE: Griechenland versucht zu verhindern, dass die Türkei neue F16-Kampfjets aus den USA erhält. In den Verhandlungen über den Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato wurde dies der Türkei in Aussicht gestellt. Wie finden Sie das?
Varvitsiotis: Wir haben nicht versucht, das zu verhindern. Es war der US-Kongress, der Einwände hatte aufgrund der Tatsache, dass die Türkei anspruchsvolle Waffensysteme aus Russland gekauft hat. Der Kongress hat einen Lieferstopp für Waffen aus den USA ausgesprochen, solange die Türkei nicht das russische S-400-Raketensystem abschaltet. Wir sprechen aber auch mit Deutschland, Italien oder Spanien darüber und weisen darauf hin, dass Waffen aus der Produktion freundlicher Staaten nicht auf ein verbündetes Land wie Griechenland gerichtet sein dürfen.
ZEIT ONLINE: Und wie reagieren diese Staaten darauf, besonders die deutsche Bundesregierung?
Varvitsiotis: Wir nehmen noch nicht wahr, dass sich etwas ändert, obwohl wir darum bitten. Aber wir werden nicht aufhören, darüber zu informieren, nicht zuletzt die deutsche Öffentlichkeit.
ZEIT ONLINE: Welche Waffen liefert Deutschland aktuell an die Türkei?
Varvitsiotis: Es geht vor allem um technologisch sehr weit entwickelte U-Boote von Thyssenkrupp. Es ist ein ähnliches Modell, über das auch wir in unserer Marine verfügen und das wir schon vor 20 Jahren gekauft haben. Griechenland war das erste Land, das diese U-Boote bestellt und damit auch die Entwicklung mitfinanziert hat, noch vor der deutschen Marine. Nun gibt es bei der Auslieferung dieser U-Boote an die Türkei erhebliche Verzögerungen, noch ist keines angekommen.
ZEIT ONLINE: Was erwarten Sie von der Bundesregierung in diesem Fall?
Varvitsiotis: Wir bitten sie darum, ihre Position zur Lieferung deutscher Waffensysteme zu überdenken. Darum haben wir schon die Regierung der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel gebeten und wir tun dies nun auch bei der aktuellen Bundesregierung. Die Antwort lautet aber, dass dieses Geschäft schon vor der jüngsten Eskalation in den griechisch-türkischen Beziehungen abgeschlossen worden sei.
ZEIT ONLINE: Ein wichtiger Grund für den Konflikt mit der Türkei sind die Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer. Griechenland hat eine Allianz mit Zypern, Israel und Ägypten geformt, um diese Vorkommen zu heben. Hätte die Türkei nicht von Anfang zu diesem Club dazugehören müssen?
Varvitsiotis: Zunächst muss man feststellen, dass die Erdgasvorkommen in den ausschließlichen Wirtschaftszonen anderer Staaten gefunden wurden, nicht in der Wirtschaftszone der Türkei. Hinzukommt, dass die Türkei mit keinem seiner Nachbarstaaten am Mittelmeer ein Abkommen über die genauen Grenzen der ausschließlichen Wirtschaftszonen abgeschlossen hat. Das zeigt, dass ihre Ansprüche sehr weitreichend sind.
ZEIT ONLINE: Können diese Vorkommen in der aktuellen Gaskrise von Bedeutung sein?
Varvitsiotis: Ja natürlich. Wir sollten die Vorkommen nutzen, die in der Nachbarschaft liegen. Ich verstehe aber eigentlich nicht, warum sich Zypern, Israel und Ägypten mit der Türkei an einen Tisch setzen und beraten sollten, wenn die Türkei nicht einen Kubikmeter dieser Vorkommen in ihrer Wirtschaftszone hat.
ZEIT ONLINE: Was ist dann die Lösung für den Streit?
Varvitsiotis: Ein internationales Gericht könnte das schnell klären und die ausschließlichen Wirtschaftszonen festlegen. Ich glaube fest daran, dass wenn man Streit mit dem Nachbarn hat, man vor Gericht geht und keinen Krieg beginnt.
ZEIT ONLINE: Welche Position nimmt Griechenland dabei ein?
Varvitsiotis: Wir sind nicht Partner bei der Förderung aus den Erdgasfeldern südlich von Zypern, sie gehören uns nicht. Es geht darum, die Eastmed-Pipeline zu realisieren, die aus dem Gebiet südlich von Zypern über Kreta und Griechenland bis nach Italien führen könnte. Es wäre der sicherste und verlässlichste Weg, das Gas nach Europa zu befördern. Warum wir der Ansicht sind, dass die Türkei in diese Kooperation nicht einbezogen werden sollte? Weil wir glauben, dass sie nicht als Transitland, sondern als Zwischenhändler agieren möchte. Der zweite Grund ist: Man sollte sich genau überlegen, ob man nach der Erfahrung mit Russland einer revisionistischen und autoritären Regierung noch mehr Macht in die Hand geben möchte.
ZEIT ONLINE: Griechenland hat sich in der EU dagegen gewehrt, die Sanktionen gegen Russland auf den Seetransport von russischem Öl auszuweiten. Die Tanker der griechischen Reedereien wären davon besonders betroffen. Ist es nicht an der Zeit, diesen Widerstand zu beenden?
Varvitsiotis: Wenn der Vorschlag der EU-Kommission akzeptiert worden wäre, wäre dies ein großes Geschenk für die chinesische Schifffahrt gewesen. Auch die G7-Staaten haben diesem Vorschlag nicht zugestimmt. Es ist von großem Vorteil, dass Europa über eine derart starke maritime Handelsflotte verfügt, die griechischen Reedereien machen dabei mit etwa 60 Prozent den größten Teil aus. Wir sollten diese Macht nutzen. Wenn wir uns für den Transport im Welthandel allein auf China verlassen, kann das gefährlich werden. Wir merken das schon längst auch in den internationalen Lieferketten, die durch nationale Einschränkungsmaßnahmen in China, vor allem wegen der Lockdowns, schwer gestört sind.
ZEIT ONLINE: Irgendwann wird es aber vorbei sein mit den russischen Ölimporten. Das ist doch allen klar.
Varvitsiotis: Wir reden nicht allein über die Importe nach Europa, sondern über den Export aus Russland in Drittstaaten, der auf europäischen und griechischen Schiffen stattfindet. Wir würden die Weltwirtschaft lahmlegen, wenn wir diese Öltransporte einstellen. Es würde zu einer globalen Wirtschaftskrise führen.
ZEIT ONLINE: Es kann aus Ihrer Sicht keine Sanktionen gegen die griechische Schifffahrt geben?
Varvitsiotis: Es würde unseren europäischen Interessen zuwiderlaufen. Der einzige Ausweg wäre, ein globales Embargo generell auf den Transport von russischem Öl auszusprechen. Aber daran müssten sich möglichst viele Staaten über die EU hinaus beteiligen. Dies hätte aber noch schwerere Konsequenzen für die Weltwirtschaft.