György Dalos ist kein Freund von Viktor Orbán. Dazu hat er allen Grund. Als Intellektueller fühlt er sich von Orbáns Politik direkt angegriffen. In einer Brandrede kurz vor seinem Erdrutschsieg 2010 benannte der Fidesz-Parteichef seine Feinde, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die Kulturschaffenden hätten sich mit ihrer sozialliberalen Werteordnung vollkommen diskreditiert: «Die Schriftsteller sind der Meinung, trotz allem gute Romane geschrieben zu haben. Als massgebliche Elite haben sie allerdings abgewirtschaftet.» Nun gehe es darum, eine auf ständiges Regieren ausgerichtete Politik durchzusetzen. Die nationalen Angelegenheiten müssten in einem grossen, zentralen Kraftfeld entschieden werden, das ohne lästige Diskussionen auskomme.
© Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung DeutschlandGeschichte einer Selbstradikalisierung: Viktor Orbán. Beata Zawrzel / NurPhoto / Imago
Revisionistische Politik
Skrupellos baut Orbán seither Politik, Wirtschaft und Medien nach seinen Vorstellungen um. Der ehemalige Kulturminister Bálint Magyar bezeichnet Ungarn heute als «Mafiastaat», in dem alle Institutionen vom Verfassungsgericht über den Rechnungshof bis zur Nachrichtenagentur die Linie der Regierung verträten. Er verortet das «System Orbán» in einem Niemandsland zwischen Diktatur und Demokratie. Die Regierung könne auf den Rückhalt in der Mehrheit der Bevölkerung zählen. Gleichzeitig lasse sie Kritik in sorgfältig eingehegten Foren zu. Dazu gehören etwa die sozialen Netzwerke, die in Ungarn als «Kommunikationswuträume» funktionieren.
Dalos legt einen kenntnisreichen, etwas geschwätzigen und nicht immer überzeugend gegliederten Überblick über das «System Orbán» vor. In einem Kapitel, das seltsamerweise den Abschluss des Buches bildet, zeichnet er den aufhaltsamen Aufstieg des Viktor Orbán nach. Bereits 1988 gründete der geschickte Machtpolitiker die Fidesz-Partei, die sich für ein «demokratisches Ungarn», für eine staatlich-private «gemischte Wirtschaft» und ein «blockfreies Europa» einsetzen wollte. Ein Jahr später forderte Orbán in einer ebenso mutigen wie machiavellistischen Rede am Jahrestag der Hinrichtung von Imre Nagy den Abzug der Roten Armee aus Ungarn. Überlebende Zeugen des niedergeschlagenen Aufstandes von 1956 kritisierten Orbán später für diesen Auftritt: «Er allein war unter uns der Politiker, und wir waren die erschütterten Teilnehmer.» Zu dieser Zeit war Orbán bereits Stipendiat der Soros Foundation, die ihm eine Studienreise nach Oxford ermöglichte.
Orbán hat sich von einem überzeugten Liberalen zu einem autoritären Herrscher gewandelt, der seine Partei mit eiserner Faust regiert. Dalos bezeichnet Fidesz als «homogene Organisation mit Führerprinzip». Es gebe kaum interne Diskussionen. Auch das Gespräch mit anderen Parteien werde grundsätzlich verweigert. Orbán treffe alle wichtigen Personalentscheidungen selbst. Er verbanne Abweichler im besten Fall nach Brüssel oder sonst nach Debrecen oder Hódmezővásárhely.
Im Zug seiner Selbstradikalisierung hat Orbán auch seinen ehemaligen Gönner fallengelassen. Mittlerweile gilt George Soros in Ungarn als Staatsfeind Nr. 1. Im Zuge der Flüchtlingskrise gab die Regierung Orbán der angeblichen Bedrohung für die ungarische Nation ein Gesicht: Auf zahlreichen Plakatwänden prangte Soros’ Konterfei, er wurde als Handlanger fremder Mächte diffamiert.
Interessante Schlaglichter, aber unausgewogene Auswahl
Dalos zeichnet in Einzelstudien nach, mit welchen Tricks sich das «System Orbán» im öffentlichen Leben durchsetzt. Unter dem Deckmantel des Jugendschutzes wurde der Tabakhandel in ein nationales Monopol übergeführt. Die willkürliche Vergabe von Verkaufslizenzen trieb viele traditionelle Kioske in den Ruin. Wichtiger noch sind die Umwälzungen im Printsektor. Oppositionelle Zeitungen wechselten unter dubiosen Umständen den Eigentümer. Sie stellten ihr Erscheinen entweder ein oder passten ihren Inhalt der Regierungslinie an.
Schliesslich kritisiert Dalos die staatliche Hochschulpolitik. Die von Soros finanzierte Central European University (CEU) wurde aus Budapest nach Wien vertrieben. Eine unter Druck der EU erfolgte Rücknahme der «Lex CEU» kam zu spät. Gleichzeitig schloss die Regierung eine «strategische Vereinbarung» mit der chinesischen Fudan-Universität, die einen überdimensionierten Campus in Budapest errichten soll.
Dalos wirft interessante Schlaglichter, allerdings bleibt die Auswahl der Themen unausgewogen. Es gibt zwar eigene Kapitel über das Verhältnis zur Türkei und zum Judentum, aber kaum Erklärungen über Orbáns eigentümliche Faszination für Putins Russland oder über die Rolle von Katholizismus und Protestantismus in Ungarn.
Immerhin beweist Dalos Humor für die Bewältigungsstrategien einzelner Bürger gegen das «System Orbán». So freut er sich über die Gründung der «Partei des Hundes mit zwei Schwänzen», die ihren Wählern Freibier oder das ewige Leben verspricht und die Einführung des Forint in ganz Europa fordert.