Was er von der Ukraine als EU-Beitrittskandidaten erwartet, gab auch Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung vom 22. Juni deutlich bekannt: Von „besonderer Bedeutung“ seien „Fragen der Rechtsstaatlichkeit“, darunter auch „der Kampf gegen die Korruption“. Kurz bekam die Ukraine in Brüssel den Kandidatenstatus für den EU-Beitritt.
© Bereitgestellt von Berliner ZeitungEU-Milliarden für die Ukraine: Und was, wenn Oligarchen sie einfach klauen?
Nun hat auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen betont, dass Kiew den Kampf gegen Korruption und gegen den Einfluss von Oligarchen verstärken müsse. Das Land habe zwar bereits Fortschritte erzielt, sagte die 63-Jährige am Freitag in einer Video-Ansprache vor dem Parlament in Kiew, aber die geschaffenen Institutionen bräuchten „Zähne und die richtigen Personen in leitenden Positionen“.
Von der Leyen könnte in diesen Tagen auf einer Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Lugano, Schweiz, dem vom Krieg verwüsteten Land eine Art Marshallplan in Höhe von 523 Milliarden Euro in Aussicht stellen, wie der Nachrichtendienst Bloomberg unter Verweis auf informierte Personen berichtet. An welche Bedingungen dieser Plan gebunden wird, bleibt noch unklar, aber es wäre dringend geboten. Denn wer garantiert sonst, dass die EU-Gelder wirklich in den akuten Wirtschaftssektoren ankommen und nicht in die Tasche von korrupten Beamten oder Oligarchen gehen?
Der „Sonderbericht 23“ mit dem Titel „Bekämpfung der Großkorruption in der Ukraine“ konstatiert, die Ukraine leide „seit vielen Jahren an Korruption, vor allem an Großkorruption“. Diese zeichne sich aus durch „Machtmissbrauch auf hoher Ebene, durch den sich wenige Personen auf Kosten der Allgemeinheit einen Vorteil verschaffen“. Diese Großkorruption, legt der EU-Rechnungshof nach, sei „für die Rechtstaatlichkeit und die wirtschaftliche Entwicklung in der Ukraine das Haupthindernis“.
Denn sie basiere in der Ukraine „auf informellen Verbindungen zwischen Regierungsbeamten, Parlamentsmitgliedern, Staatsanwälten, Strafverfolgungsbehörden“ und „Geschäftsführern von staatseigenen Unternehmen“. Betroffene Bereiche reichten von der Energiebranche über Maschinenbaubetriebe und Häfen bis in die Medien.
Der Auswärtige Dienst der EU und die EU-Kommission haben die Ukraine nach eigenen Worten in den vergangenen Jahren bei der Korruptionsbekämpfung unterstützt, doch Dutzende Milliarden Euro würden in der Ukraine nach wie vor jedes Jahr verloren gehen. Da die Reformhilfe der EU nicht konkret auf die Bekämpfung der Großkorruption ausgerichtet gewesen sei, habe sich die Überwachung ihrer Auswirkungen als schwierig erwiesen, stellen die Verfasser des Berichts fest. Oder war sie vielleicht wirkungslos?
Die 2016 mit EU-Unterstützung geschaffene ukrainische Antikorruptionsbehörde Nationales Antikorruptionsbüro (NABU) habe zwar „in der internationalen Gemeinschaft einen guten Ruf“, besänftigen die Verfasser des Berichts gleich die Kritiker. Bei Ermittlungen wegen Korruptionsverdacht in staatseigenen Unternehmen sei die Zahl der laufenden Ermittlungen der Behörde etwa von 200 im Jahre 2016 auf 1000 im Jahre 2020 gestiegen. Dennoch, bedauern die EU-Rechnungsprüfer, komme es „nur vereinzelt zu Verurteilungen wegen Großkorruption.“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zieht allerdings eine andere Bilanz zum Antikorruptionskampf in seinem Land. In einem Interview wenige Monate vor Kriegsbeginn sagte er, die Ukraine habe „in den letzten Jahren eine Antikorruptionsinfrastruktur geschaffen, die beispiellos ist in Europa und vielleicht auf der ganzen Welt“. Die Ukraine, so Selenskyj, „lebt bereits mit europäischen Standards“.
Der Hintergrund für diese Aussagen ist die ukrainische Abwehr der massiven Moskauer Propaganda, die immer wieder versucht, die Ukraine als Hort der Korruption darzustellen. Dabei verfügt Russland nicht einmal über eine eigene Antikorruptionsbehörde wie die Ukraine. Mehr noch: Im Korruptionsindex von Transparency International liegt die Ukraine auf Rang 122 zwischen Niger und Sambia – aber noch vor Russland, das den Platz 136 besetzt.
Die Glaubwürdigkeit Selenskyjs als Korruptionsbekämpfer war im Oktober vergangenen Jahres erschüttert worden. Dabei handelte es sich um das bis heute größte Daten-Leak über internationale Steueroasen, die Pandora Papers. Es wurde aufgedeckt, dass Selenskyj ebenso wie 38 andere ukrainische Politiker Geld auf Offshore-Konten versteckt hatte. Dabei ging es um ein Netzwerk von Offshore-Firmen auf Zypern, den Britischen Jungferninseln und in Belize. Mit dessen Hilfe wurden Gelder versteckt, die Selenskyjs TV-Produktionsfirma Kwartal 95 erwirtschaftet hatte. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei die Firma Maltex Multicapital Corporation. An ihr besaßen Selenskyj und seine Ehefrau Olena 25 Prozent der Anteile.
Beteiligt an den Offshore-Praktiken waren auch jetzige leitende Amtsträger in der Kiewer Präsidialverwaltung. Zu den ukrainischen Kapitaleignern, die Offshore-Gelder verbargen, gehört auch der Oligarch Ihor Kolomoisky. Der hatte Selenskyjs siegreichen Präsidentenwahlkampf 2019 maßgeblich unterstützt. Kritiker in der Ukraine warfen Selenskyj immer wieder eine Abhängigkeit von Kolomoisky vor.
Die Praxis der Offshore-Konten ist zwar nicht gesetzeswidrig. Dennoch befand sich der ukrainische Präsident damit schlechter Gesellschaft mit russischen Oligarchen und Figuren aus dem Umfeld des Kremlchefs Wladimir Putin, die ebenfalls in den Pandora-Papers aufgedeckte Finanzschlupflöcher nutzten. Noch im Präsidentenwahlkampf 2019 hatte Selenskyj als Herausforderer dem damaligen Präsidenten Petro Poroschenko vorgeworfen, Geld auf Offshore-Konten vor dem ukrainischen Fiskus verborgen zu haben. Nach den Enthüllungen sprach der in Kiew für deutsche Medien tätige Journalist Denis Trubetskoy von den „zwei Gesichtern des Wolodymyr Selenskyj“.
Dass ihm die Pandora-Affäre im Lande nicht nachhaltig schadete, ist eine Folge von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Krieg und der mit ihm verbundene breite Aufschwung des ukrainischen Patriotismus haben die Erinnerung an die Pandora-Papers verweht. Einige ukrainische Oligarchen haben das Land verlassen, der Wunsch von Millionen Ukrainern, schließlich der EU beizutreten, weckt große Hoffnungen auch auf eine Überwindung der Korruption.
Doch gerade der Krieg öffnet neue Tore für die Großkorruption. In der Situation einer unmittelbaren Bedrohung stehen zivile Kontrollmechanismen nicht im Mittelpunkt. Ein heikler Bereich ist die Beschaffung von Militärgütern und die Versorgung der Armee. Der staatlich organisierte Waffenhandel ist seit den 90er-Jahren sowohl in Russland als auch in der Ukraine eine von korrupten Seilschaften durchzogene Branche, die immer wieder für Skandale sorgte. In den letzten Jahren gab es im ukrainischen Verteidigungssektor mehrfach Korruptionsskandale. Der größte von ihnen betraf einen hohen Amtsträger.
Am 17. Oktober 2019 wurde zum Beispiel der ehemalige Vize des Nationalen Verteidigungsrates, Oleg Gladkowski, am Kiewer Flughafen wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet. Gladkowski, ein enger Vertrauter des 2019 abgewählten Präsidenten Petro Poroschenko, hatte versucht, das Land zu verlassen. Die Ermittler verdächtigten ihn des Amtsmissbrauches, falscher Angaben gegenüber dem Finanzamt und Gesetzesverstößen bei Beschaffungen für das Militär. Doch bereits vier Tage später war er gegen Kaution wieder frei. Verurteilt wurde er nicht.
Die unter Selenskyj eingesetzte neue Militärführung wendet sich zwar mit scharfer Rhetorik gegen die Korruption im Militär. Der Oberkommandierende der Streitkräfte der Ukraine, Walerij Saluschnyj, spricht von „null Toleranz“ und nennt zugleich die korruptionsanfälligen Bereiche: Logistik, die höhere Militärausbildung und die Beschaffung von Versorgungsgütern. Wie ernst die Lage seit Jahren ist, bekannte der jetzige Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates und damalige Finanzminister Oleksandr Danyliuk bei der Organisation Chatham House in London am 5. Juli 2017. Die Verteidigungsausgaben in der Ukraine, so Danyliuk, seien „völlig intransparent“. Das betraf konkret die Ära Poroschenko. Doch im Kern dürfte sich in diesem Bereich bis heute nichts geändert haben.
Maßgeblichen Einfluss darauf, ob und wie die Ukraine ihre Korruptionsprobleme überwindet, hat die Politik der USA, des stärksten Unterstützers der Ukraine. Präsident Joe Biden rief bereits als Vizepräsident im April 2014 bei einem Besuch in Kiew die ukrainische Gesellschaft dazu auf, den „Krebsschaden“ der „endemischen Korruption“ zu bekämpfen. Kurz danach, am 12. Mai 2014, gab der in der Ukraine tätige Energiekonzern Burisma Holdings bekannt, dass Hunter Biden, Sohn von Joe Biden, in den Vorstand des Unternehmens berufen werde.
Burisma Holdings mit dem Sitz in Limassol auf Zypern ist im Besitz einer zypriotischen Investmentfirma, die der ukrainische Oligarch Mikola Slotschewskyj kontrolliert. Slotschewskyj war unter dem korrupten, im Februar durch den Maidan-Aufstand gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowytsch zunächst Umweltminister und dann stellvertretender Chef des Sicherheitsrates. Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine verdächtigte Slotschewskyj, er habe als Beamter der eigenen Firma Vorteile in Form von Explorationslizenzen verschafft. Doch Slotschewskyj wurde von einem Gericht freigesprochen, was zu Protesten von Antikorruptionsaktivisten führte.
Gegen Hunter Biden wurde auch später nicht ermittelt. Doch er bewegte sich durch seinen Posten bei Burisma in einem „für jede Reputation toxischen Umfeld“, wie der Spiegel 2019 monierte. Denn die Firma, deren Vorstand Hunter Biden angehörte, agierte in einem für die Vor-Maidan-Ukraine typischen Oligarchenmilieu. Nach amerikanischen Presseberichten erhielt Hunter Biden, der keinerlei Qualifikation für die Energiebranche hat, bei Burisma eine monatliche Bezahlung von bis zu 50.000 US-Dollar. Seine Tätigkeit für Burisma endete im April 2019. Die Annahme, dass er mit seinem Vater darüber nie sprach, widerspricht jeder politischen und menschlichen Erfahrung. Denn Hunter Biden bewegte sich im politischen Windschatten von Joe Biden, der als Vizepräsident mehrfach die Ukraine besuchte und Kontakte zu deren Führung pflegte.
Belegt ist, dass Joe Biden dafür sorgte, dass der damalige Generalstaatsanwalt der Ukraine, Wiktor Schokin, im April 2016 durch den damaligen Präsidenten Poroschenko entlassen wurde. Denn Schokin hatte gegen Burisma ermittelt. Joe Biden bekannte in einer Diskussion des Council on Foreign Relations in den USA am 23. Januar 2018, dass er Poroschenko und den ukrainischen Premierminister Arsenij Yazeniuk erfolgreich gedrängt habe, Schokin zu entlassen.
Biden hat ihm nach eigenen Worten sogar gedroht: „Wir werden Ihnen die Milliarde nicht geben.“ Es ging um Hilfsgelder für die Ukraine in Höhe von einer Milliarde Dollar. Biden sagte, er habe den Präsidenten und den Premierminister der Ukraine angesehen und ihnen gesagt: „Ich gehe in sechs Stunden. Wenn der Staatsanwalt dann nicht gefeuert ist, kriegt ihr das Geld nicht.“
Die Generalstaatsanwalt, der gegen Burisma ermittelte, wurde so entlassen. Die Ukraine bekam ihre Milliarde. Ein Beitrag zur Überwindung der selektiven Korruptionsbekämpfung in der Ukraine war dieses Vorgehen aber kaum.
Nun ist es an der EU, die Milliarden für die Nachkriegs-Ukraine ebenfalls an klare Bedingungen und Gegenleistungen zu binden, zum Beispiel eine bessere und glaubwürdigere Bekämpfung der Korruption. Aber nicht wie Joe Biden es vor Jahren machte, den Geschäften des eigenen Sohnes zuliebe.