Nach nur sechs Monaten im Amt stürzt die Reformregierung des Premiers Kiril Petkow. Bulgarien steht vor einer neuen innenpolitischen Stagnation. Immerhin: Das Drama um das Nordmazedonien-Veto könnte ein Ende finden.
© Stoyan Nenov/REUTERSVizepremier Asen Vacilev (vorne l.) und Premier Kiril Petkow (vorne r.) im bulgarischen Parlament in Sofia am 22.06.2022
Bulgarien ist seit langem eines der politisch instabilsten Länder der Europäischen Union. Im vergangenen Jahrzehnt gab es neun Regierungswechsel und sechs Parlamentswahlen, darunter drei allein im Jahr 2021. Begleitumstände waren schwerwiegende Korruptionsaffären und gebrochene Reformversprechen, soziale und Finanzkrisen, Massenproteste und Bürgerrevolten. Zwischendurch hegten die Menschen immer wieder kurze und schnell enttäuschte Reformhoffnungen - sei es durch politische Newcomer, sei es durch Interims-Regierungen, die Veränderungen anstrebten, aber nicht umsetzten.
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Die populistische ITN war vor kurzem aus der Regierung ausgestiegen. Zusammen mit den Oppositionsparteien, darunter einer prorussisch-nationalistischen Partei, stimmte sie für einen Sturz der Regierung. Vordergründig ging es um einen außenpolitischen Disput: das Verhältnis zu Nordmazedonien und das bulgarische Veto gegen den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Nachbarland. Im Hintergrund stand jedoch ein Konflikt um die innenpolitische Reformagenda und Anti-Korruptionsvorhaben. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine spaltete die Koalition - obwohl das Thema beim Misstrauensvotum keine direkte Rolle spielte. So etwa sprachen sich die mitregierenden prorussisch eingestellten Sozialisten gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus.
Petkows Regierung war erst vor sechs Monaten, im Dezember 2021, mit radikalen Reformversprechen angetreten - vor dem Hintergrund von anderthalb Jahren schwerer innenpolitischer Krise. Nun kommt ihr Sturz für Bulgarien und zugleich auch für die Europäische Union zu einem der schlechtesten möglichen Zeitpunkte der vergangenen Jahre: Die Frage von Waffenlieferungen und der Sanktionen gegen Russland stellt die EU und ihre Mitgliedsländer immer wieder vor Zerreißproben. Auch die Glaubwürdigkeit der EU-Erweiterungspolitik in Südosteuropa nimmt wegen des bulgarischen Vetos gegen eine Aufnahme von Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien immer größeren Schaden.
Was will Bulgarien von Nordmazedonien?
Nordmazedonien ist in Bulgarien seit langem Gegenstand innenpolitischer Machtspiele - so wie auch beim jetzigen Misstrauensvotum. Die beiden Nationen haben gemeinsame historische und sprachliche Wurzeln. In Bulgarien sieht man die Mazedonier jedoch verbreitet als Teil der bulgarischen Nation, das Mazedonische als bulgarischen Dialekt. In einer innenpolitischen Krisensituation instrumentalisierte Bulgariens umstrittener Langzeit- und Ex-Premier Bojko Borissow das Thema im Herbst 2020: Wegen schwerwiegender Korruptionsvorwürfe gegen ihn nutzte er ein Veto gegen den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien dazu, nationalistische Wähler zu mobilisieren.
© BGNESBulgarien: Ende eines Reformtraumes
Die Forderung dabei: Nordmazedonien müsse erst seine bulgarischen Wurzeln und seine Sprache als bulgarischen Dialekt anerkennen, dann könne es EU-Verhandlungen beginnen. Mit dieser Haltung hat Bulgarien sich in der EU in die Isolation und in eine ähnliche Ecke manövriert wie der Dauerquerulant Viktor Orban in Ungarn. Nachdem Petkows Reformregierung Ende 2021 ihr Amt angetreten hatte, versuchte der Premier vergeblich, den Widerstand gegen eine Vetorücknahme zu brechen. Sein Koalitionskollege, Slawi Trifonow, Chef der Partei ITN, nahm Petkows Politik Anfang Juni 2022 zum Anlass für einen Rückzug aus der Regierung.
Trifonows Phantompartei
Der Entertainer Slawi Trifonow ist ein Populist, Corona-Skeptiker und selbsternannter Heilsbringer - und seine ITN eine Phantompartei ohne irgendein konsistentes politisches Programm, präsent vor allem durch die Erklärungen ihres Führers auf Facebook. Wie so oft in Bulgarien spülte eine Krisensituation ITN an die politische Oberfläche und machte sie wegen ihrer pauschalen Antikorruptionsversprechen bei der Parlamentswahl 2021 zeitweise zur stärksten Partei Bulgariens.
© TV/Handout/REUTERSDer Entertainer und Politiker Slawi Trifonow
Nun jedoch war es ausgerechnet Petkows Antikorruptions- und Transparenzpolitik, die Trifonow wohl zu weit ging. So etwa gab es in der Regierung Streit um die Art und Weise der Vergabe öffentlicher Gelder - ITN sperrte sich gegen Reformen. Gleichzeitig konnte sich die Trifonow-Partei auch bei der Ernennung umstrittener, teils korruptionsverdächtiger Personen auf staatliche Schlüsselposten nicht durchsetzen.
Eine desillusionierte Gesellschaft
Für Bulgarien ist das Ende der Regierung Petkow ein schwerer Schlag. Zwar ist auch der Noch-Premier keine Lichtgestalt - aber er unternahm mit seiner Regierung erstmals seit vielen Jahren einen glaubwürdigen Reformversuch tief korrupter, scheinbar unreformierbarer Strukturen im Land. Das Ende dieses Experimentes dürfte in der ohnehin desillusionierten bulgarischen Gesellschaft nun zu noch mehr Frustration über die politische Klasse und noch mehr Lethargie bei künftigen Wahlen führen.
© Nikolay Doychinov/AFP/Getty ImagesBulgariens Präsident Rumen Radew spricht im November 2021 vor Journalisten
Bulgarien wird in den kommenden Wochen oder sogar Monaten erst einmal auf der Stelle treten. Staatspräsident Rumen Radew muss nach dem Sturz der Regierung nun bis zu drei Mal den Auftrag erteilen, eine Regierung zu bilden. Scheitern alle drei Versuche, kann er Neuwahlen ausrufen. Als erste Partei wird voraussichtlich Petkows "Wir setzen den Wandel fort" den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten.
Neue Jahre der Reformagonie?
Unterdessen zeichnet sich eine mögliche Lösung des Nordmazedonien-Disputs ab: So überraschend, wie Ex-Premier Borissow einst sein Veto gegen den Beginn der EU-Beitrittsgespräche mit dem Nachbarland eingelegt hatte, so überraschend verkündete er am Mittwoch, dass seine Partei, die rechtskonservativ-populistische GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens), einer Rücknahme des Vetos im Parlament zustimmen würde.
Hintergrund für diese Kehrtwende dürfte unter anderem sein, dass Borissow und seine Partei, die der Europäischen Volkspartei (EVP) angehören, außenpolitisch inzwischen zu stark unter Druck stehen. Möglicherweise will sich Borissow innenpolitisch angesichts bevorstehender Neuwahlen auch wieder mehr als Führer einer verantwortlichen politischen Kraft darstellen. Falls er auf diese Weise erneut den Sprung zurück an die Regierung schafft, stünden Bulgarien wieder viele weitere Jahre der Reformagonie bevor.