Ursula von der Leyen wusste, auf welcher Klaviatur sie spielen musste, als sie am 16. Juli 2019 im EU-Parlament ans Rednerpult trat. Die Abgeordneten sollten sie an diesem Tag zur Präsidentin der EU-Kommission wählen. Aber viele, besonders unter den Linken und Grünen, misstrauten der gescheiterten deutschen Verteidigungsministerin und Duzfreundin von Angela Merkel.
Von der Leyen machte ihren Gegnern deswegen Avancen und versprach unter anderem einen Plan zur Klimaneutralität, Garantien für Mindestlöhne, eine Digitalsteuer sowie ein klares Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit.
Für die Wahl zur mächtigsten Frau in Brüssel sollte das reichen, wenn auch nur knapp. Von der Leyen rutschte mit lediglich neun Stimmen über der nötigen Mehrheit in ihr neues Amt – wohl wissend, dass die Zusammenarbeit mit den Europaabgeordneten schwierig werden würde.
Stern gesunken
Gut drei Jahre später ist der Stern der kühlen Norddeutschen im Europaparlament so stark gesunken, dass es nicht einmal mehr sicher ist, ob die Kommissionspräsidentin ihre erste Amtszeit überhaupt zu Ende führen kann – geschweige denn, dass sie sich Hoffnungen auf eine zweite machen darf.
Stein des Anstosses ist die jüngste Entscheidung der Kommission, den Corona-Aufbauplan der polnischen Regierung zu billigen. Wie jeder Mitgliedstaat sollte das Land erklären, wie es die Milliarden einsetzen würde, die ihr aus dem Fonds zur Bewältigung der Pandemie zustehen. Wegen des Streits um die Unabhängigkeit der Justiz in Polen hielt Brüssel die Gelder jedoch bisher zurück.
Vergangene Woche dann die überraschende Kehrtwende: Nachdem die Regierung in Warschau angekündigt hatte, die sogenannte Disziplinarkammer für Richter abzuschaffen (und sie durch eine «Kammer für berufliche Verantwortung» zu ersetzen), beschloss die Kommission, Polens Aufbauplan gutzuheissen und so den Weg für rund 35 Milliarden Euro an Zuschüssen und Krediten freizumachen.
Viel zu schnell, entrüsteten sich kurz darauf grüne, sozialdemokratische und liberale Europaabgeordnete, habe von der Leyen damit ihr grösstes Faustpfand aus der Hand gegeben. Es sei ja noch völlig ungewiss, ob es sich bei der Ankündigung nur um Augenwischerei handle. Auch in der Kommission erntete die Präsidentin Unverständnis: Gleich zwei EU-Kommissare stimmten gegen den Beschluss, zum ersten Mal in von der Leyens Amtszeit.
Da half es der Kommissionspräsidentin wenig, dass sie bei ihrem Besuch in Warschau von weiteren Verpflichtungen in Form von «Meilensteinen» sprach, die Polen noch erfüllen müsse, bevor das Geld in Tranchen ausgezahlt werde. Im EU-Parlament gaben am Montag drei einflussreiche Abgeordnete bekannt, einen Misstrauensantrag gegen die Kommission auszuarbeiten.
In einem Schreiben an die übrigen Fraktionen fordern die Liberalen Luis Garciano, Sophie in’t Veld und Guy Verhofstadt das Parlament auf, Druck auf von der Leyen auszuüben, um «die Regeln der Konditionalität der Rechtsstaatlichkeit ernsthaft anzuwenden». In Wahrheit zeige Warschau bis jetzt keine Absicht, die Unabhängigkeit der Justiz wiederherzustellen, heisst es in dem Brief. Die Kommission habe ein «grosses politisches Problem geschaffen» und ihre Aufgabe als Hüterin der Verträge verletzt.
Tatsächlich hat das Europäische Parlament das Recht, die komplette EU-Kommission zu entlassen. Doch für ein erfolgreiches Misstrauensvotum sind zwei Drittel der Stimmen notwendig. Bisher scheiterten alle Misstrauensanträge in der Geschichte der EU. 1999 war die Santer-Kommission über einen Korruptionsfall gestolpert und trat auf öffentlichen Druck geschlossen zurück, obwohl zuvor ein Misstrauensantrag abgelehnt worden war. Ob der jetzige Antrag zur Abstimmung kommt, war am Dienstag freilich noch unklar.
Unglückliche Figur
Es sind jedoch nicht nur die Europaabgeordneten, die von der Leyen Ärger bereiten. Auch in ihrer eigenen Behörde und im Kreis der Mitgliedstaaten wundern sich viele über den Führungsstil der Deutschen. Bei den EU-Sanktionen gegen Russland machte die Kommissionspräsidentin zuletzt eine unglückliche Figur: Sie preschte Anfang Mai mit der Ankündigung eines sechsten Sanktionspaketes vor, das ein umfassendes Erdölembargo umfassen sollte. Es war jedoch mit den Regierungen unzureichend abgestimmt.
Nicht nur Ungarn, sondern auch die Slowakei, Tschechien und Bulgarien, so stellte sich später heraus, waren gegen das Embargo. Die Sanktionsmassnahme sei amateurhaft vorbereitet worden, lästerten Kritiker. Und einmal mehr erinnerte man sich in Brüssel an die Fehler, die von der Leyen während der Corona-Pandemie angelastet wurden, als die Kommissionschefin vom 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes aus eher einsame Beschlüsse fällte.
Immer peinlich auf ihre Aussenwirkung bedacht, zog es von der Leyen in der Pandemie vor, sich abzuschotten. Andere Kommissare, hiess es, seien in gemeinsame Entscheidungen nicht ausreichend eingebunden worden. Die Strategie der Impfstoffbeschaffung erwies sich nach langem Anlauf als Erfolg, doch die Lieferverträge mit Pfizer, Moderna & Co. hält die Kommission bis heute geheim. Wie viele Milliarden die Pandemie die europäischen Steuerzahler letztlich gekostet hat, ist unklar.
In Deutschland sehen viele von der Leyen als Überbleibsel der Ära Merkel. Dass sich die Ampelkoalition für eine Wiederwahl der Kommissionspräsidentin starkmachen wird, ist deswegen fraglich. Das Verhältnis zu Olaf Scholz gilt als unterkühlt. Auch bei den Grünen und den Liberalen in Berlin ist die frühere Ministerin nicht wohlgelitten. Für ihren Vorstoss, zum Wiederaufbau der Ukraine gemeinsame EU-Schulden aufzunehmen, hat sich von der Leyen erst jüngst einen Korb beim deutschen Wirtschaftsminister Christian Lindner geholt.
Ein besseres Verhältnis wird von der Leyen zum französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron nachgesagt. So war es auch Macron, der die Deutsche in einem Hinterzimmerdeal mit Merkel 2019 für den Brüsseler Top-Job nominierte. Der Vorwurf, eine Marionette des Élysée zu sein, bleibt bis heute an von der Leyen haften.