In Ungarn stehen Wahlen an, Berichterstattung über die Opposition ist in den staatlichen Medien nicht vorgesehen. Denn sie erhalten ihre Anweisungen direkt von oben.
Orbán-TV
Als András Rostoványi vor drei Jahren den Sender M1 verließ, war er im Besitz von Tonaufnahmen, die beispielhaft belegten, wie staatliche Medien in Ungarn arbeiten: Per Anweisung von oben wird dekretiert, was gesagt und gezeigt werden darf, welche Codewörter in der Berichterstattung auftauchen müssen. Bei Clips über Migranten: nur junge Männer, keine Kinder zeigen, die erregen Mitleid. Bei Politikern: Fidesz-Vertreter zu Wort kommen lassen, über die Opposition Negatives sagen. Kritische Berichte über die Regierungsarbeit sind nicht vorgesehen; selbst Chefredakteure zittern bei Anrufen aus Ministerien. Der Journalist mochte daher nicht mehr für das Staatsfernsehen berichten, dessen Arbeit er unethisch fand - und kündigte.
Nun, kurz vor der Parlamentswahl am 3. April, erzählte Rostoványi, der mittlerweile für die linke Zeitung Népszava über Außenpolitik schreibt, in einem TV-Interview von seinen Erfahrungen. Er habe, sagt er der SZ, lange gezögert, ob er sich öffentlich äußern solle -schließlich wüssten jene Ungarn, die es wirklich wissen wollten, doch ohnehin, wie die interne Zensur und das Staatsfernsehen funktionierten. Aber dann habe er sich doch dazu entschlossen: um zu zeigen, dass es nicht nur die ungarische Regierung ist, die die ungarischen Wähler für dumm verkauft. Sondern dass auch deutsche Firmen und europäische Politiker durch Profitgier und Untätigkeit ihren Anteil hätten am propagandagesteuerten Machterhalt des illiberalen Systems.
Der Journalist erzählte daher über seine Arbeit bei M1 in der exzellenten Dokumentation Ungarn - Propaganda gegen Pressefreiheit, die am vergangenen Wochenende auf ZDF Info und einen Tag darauf auch in Ungarn auf der News-Webseite 444.hu lief. Auf Ungarisch heißt der Film, für den die Berliner Produktionsfirma Film Five mit dem ZDF kooperierte, Fünf Lektionen über die Eliminierung der Realität. Die Dokumentarfilmer Bence Máté und Áron Szentpéteri zeigen darin, wie es Viktor Orbán und seinen Oligarchen gelang, die ungarische Medienlandschaft in zwölf Jahren regelrecht zu unterwerfen.
80 Prozent der ungarischen Medien sind in regierungstreuen Händen
Mittlerweile haben den Film mehr als 350 000 Zuschauer bei 444.hu angeklickt, die Zahl steigt stündlich. Die Neugier ist groß. Dabei ist die Geschichte über den Rückbau der Medienfreiheit in Ungarn seit der Wahl Orbáns zum Ministerpräsidenten 2010 alt. Die EU hat wieder und wieder protestiert. Journalistenverbände haben darüber berichtet, dass mittlerweile 80 Prozent der ungarischen Medien in den Händen von regierungstreuen Besitzern sind - wenn sie nicht ohnehin schon 2018 per Schenkung in die regierungsnahe "Mitteleuropäische Presse- und Medienstiftung" (Kesma) überführt wurden. Dutzende Regionalmedien drucken seither die gleichen Aufmacher. Radiostationen senden ellenlange Interviews mit Orbán ohne kritische Nachfragen. Linksliberale Zeitungen wurden gekauft, nur um sie umgehend einzustellen. Onlinemedien wurden von Handlangern der Regierungspartei Fidesz übernommen, die Inhalte auf Linientreue getrimmt.
Das alles ist oft wortreich bedauert worden; das International Press Institute hat gerade erst wieder einen Report veröffentlicht, in dem aufgezeigt wird, wie sehr die Regierungsnarrative zum medialen Mainstream verkommen sind. Und die Wahlbeobachter von der OSZE haben, schon zwei Wochen vor der Parlamentswahl am kommenden Sonntag, festgestellt, dass Ungarns Medienlandschaft von "systemischer politischer Voreingenommenheit" geprägt sei und Oppositionspolitiker in staatsnahen Medien praktisch nicht vorkämen.
Und doch ist diesmal einiges anders als früher. Die Opposition tritt gemeinsam an, sechs Parteien von links bis rechts haben sich verbündet und einen gemeinsamen Spitzenkandidaten, Péter Márki-Zay, gekürt - unter anderem, um auch medial als eine Kraft aufzutreten. Sie hätten, theoretisch, laut Wahlgesetz das Anrecht auf eine Berichterstattung, die den unterschiedlichen Bewerbern und ihren Inhalten angemessenen Platz einräumt; so merkt es die OSZE in ihrem Wahlvorbericht an. Aber davon kann keine Rede sein. Nicht nur weigert sich Amtsinhaber Orbán seit vielen Jahren, mit seinem Herausforderer im Fernsehen zu debattieren. Mit Blick auf Márki-Zay hat er diesmal wissen lassen, mit dem rede er schon gar nicht direkt, weil er nicht der wahre Kandidat sei. Das, so das Fidesz-Narrativ, ist der ehemalige sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány, der laut Orbán die Strippen der Oppositionskampagne zieht.
Einzig der ungarische RTL-Ableger teilt seine Sendezeit auf
Fidesz nutzt seine übermächtige Stellung nicht nur, um mit einem Ungleichgewicht bei der Wahlkampffinanzierung und einem Monopol auf Werbeflächen monetäre und optische Ungleichheit herzustellen. Die staatlichen und staatsnahen Medien ignorieren die Opposition generell so schamlos, dass zahlreiche Politiker und Sympathisanten schon mehrmals vor der Zentrale der MTVA, der Medienbehörde, demonstriert haben, um endlich wahrgenommen, angehört, interviewt, gezeigt zu werden. Vergeblich.
Das Medienforschungsinstitut Mérték, das vom German Marshall Fund unterstützt wird, wertet seit vielen Jahren die Berichterstattung in Ungarn aus - nach Minuten, nach Sendern und nach Inhalten. Drei Analysen wurden vor der kommenden Wahl erstellt. Das Ergebnis ist, was Ausgewogenheit und Fairness angeht, niederschmetternd. Staatsnahe Medien wie TV2 oder Duna widmen den Oppositionsparteien weniger als zehn Prozent ihrer Zeit, einzig der ungarische RTL-Ableger teilt seine Sendezeit zwischen den Lagern gerecht auf.
Wenn in Staatsmedien über Orbáns Gegner berichtet wird, geschieht dies praktisch immer verzerrt und in einem negativen Kontext. Weil Staatssender ohnehin nicht zu Pressekonferenzen der Opposition gehen, übernähmen sie, so Mérték, zudem regelmäßig die Coverage anderer Sender und intonierten deren Berichte neu. Zitate würden komplett aus dem Zusammenhang gerissen und dann tagelang in sekundenkurzen Clips wiederholt, alte Äußerungen von Politikern hervorgekramt und in einem falschen Kontext präsentiert.
Als die Opposition ihr Wahlprogramm vorstellte, berichteten öffentlich-rechtliche Sendern nicht über den Inhalt, stattdessen belächelten sie die Zahl der Teleprompter und der technischen Hilfsmittel und stellten die "Inszenierung" als "Reinfall" dar. Zwar, so Mérték, werde Márki-Zay im Fernsehen sekundenlang gezeigt - nur um ihn dann mit länglichen Zitaten aus Fidesz-nahen Medien niederzumachen. Immerhin: Einmal bekam der Spitzenkandidat der Opposition fünf Minuten Interviewzeit - live, an einem Mittwochmorgen gegen neun Uhr. Er nutzte seinen Auftritt, um atemlos zumindest einmal das Programm der vereinten Opposition zu erklären. Vor und nach seinem Auftritt kam indes ein anderer Kandidat sehr ausführlich zu Wort: Amtsinhaber Viktor Orbán.