Vermutlich hat man nicht einmal beim Bundesrechnungshof selbst befürchtet, so zügig von der Realität überholt zu werden. Der Wiederaufbaufonds, warnten die Haushaltsprüfer des Bundes vor genau einem Jahr in einem Sonderbericht, könnte als Präzedenzfall betrachtet werden, auch Kosten künftiger Krisen auf EU-Ebene zu verlagern.
Die Corona-Pandemie ging da gerade in ihr zweites Jahr, und man hätte meinen können, mit Ereignissen solch historischen Ausmaßes sei es danach auch erst einmal wieder gut. Doch weit gefehlt: Das Virus und seine wirtschaftlichen Folgen sind noch immer nicht verschwunden, da ist mit dem Ukraine-Krieg der nächste epochale Einschnitt im vollen Gang – und die Analysten vom Rechnungshof sollten mit ihrer Sorge Recht behalten.
Frankreichs Ministerpräsident Emmanuel Macron fordert bereits eine Art „Wiederaufbaufonds 2.0“, in die Debatte eingeflogen diesmal als „europäische Investitionsstrategie“. Sein italienischer Mitstreiter Mario Draghi spricht von einem „Resilienzfonds“.
Konstrukt auf tönernen Füßen
„Never let a good crisis go to waste“, soll Winston Churchill einst gesagt haben. Diese Losung half Brüssel bereits, das Instrument „Next Generation EU“, wie der Wiederaufbaufonds genannt wird, zu etablieren. Der Fonds ermächtigte die Europäische Union, unter dem Eindruck der beängstigenden ersten Wochen der Pandemie, erstmals in ihrer Geschichte selbst Schulden zu machen.
Das am Markt aufgenommene Kapital – rund 800 Milliarden Euro – stellte sie anschließend den Mitgliedstaaten als Zuschüsse zur Verfügung. In den Wirren der Notlage ging unter, dass das Konstrukt juristisch auf tönernen Füßen stand, doch nach alter Juncker‘scher
„Wir-stellen-etwas-in-den-Raum“-Manier nahm das Projekt eine Hürde nach der anderen und ist nun Realität.
Es mag zynisch klingen, aber: Das Virus kam Brüssel nicht eben ungelegen. Denn die Südländer der Eurozone ächzten auch schon vorher unter der Last ihrer Schulden. Diese waren für Italien und Co. nur deshalb noch tragfähig, weil die Europäische Zentralbank über Jahre eine Geldpolitik mindestens am Rande ihres Mandats betrieben hatte.
Mit deren Hilfe wurden die Risikoaufschläge für Anleihen der betroffenen Länder auf niedrigstem Niveau gehalten. Andernfalls wäre die notdürftig zusammengehaltene Gemeinschaftswährung sofort wieder in Turbulenzen geraten.
Verschiedenste Narrative für die Notwendigkeit
Der Wiederaufbaufonds verschaffte den Regierungen nun willkommene neue Spielräume, die ohne Einfluss auf die Maastrichter Schuldenkriterien blieben und zuweilen einfach dazu genutzt wurden, sich das Volk mit allerlei sozialen Wohltaten gewogen zu machen. Die Gelbwesten in Frankreich hatten ihrer Regierung bereits zuvor bedeutet, wo ihre roten Linien verliefen, und nach dem Beginn der Pandemie galt es auch in Italien, den Zorn des Volkes zu besänftigen.
Kein Wunder, dass die handelnden Akteure mit zweifelhaften Argumenten versuchen, den Zugang zu Dokumenten zu verwehren, die Aufschluss über die Mittelverwendung geben könnten.
Dass der Wiederaufbaufonds eine semantische Täuschung ist, zeigt sich auch daran, dass im Laufe seiner Evolution verschiedenste Narrative für die Notwendigkeit dieser epochalen Kreditfazilität herhalten mussten. Die Rede vom Wiederaufbau, die implizierte, das Virus hätte ganze Landschaften in Schutt und Asche gelegt, musste bald der Erzählung weichen, die wirtschaftlichen Folgeschäden der Pandemie ließen sich nur mithilfe der EU-Milliarden beheben.
Und schließlich sendete EU-Kommissions-Chefin von der Leyen mit dem „Green Deal“ und ihrer Digitalisierungsoffensive nichts weniger als das Signal zum Komplett-Umbau des europäischen Wirtschaftssystems.
Vertrauen der Anleger steht auf dem Spiel
Churchill steht auch jetzt wieder Pate, wenn angesichts des Krieges in der Ukraine und seiner wirtschaftlichen, militär- und energiepolitischen Folgen nach dem Prinzip „Next Generation EU“ erneut Schulden auf EU-Ebene aufgenommen werden sollen. Denn wie Corona spielt auch der Krieg den Befürwortern einer EU als Haftungs- und Transferunion in die Hände. Bei ihnen, sagen sie, ist nichts zu holen – die einzige Chance seien gemeinsame Schulden.
Dabei sind die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds noch nicht einmal ausgegeben, aus diesem Topf stünden noch Milliarden Euro bereit. Es gibt keinen erkennbaren Grund, weshalb erneut europäische Gelder in Anspruch genommen werden sollten – außer den, jede sich bietende Chance zu nutzen, eine EU-seitige Schuldenaufnahme zu verstetigen und damit einen Gewöhnungseffekt zu erzielen.
Kommen Macron und Draghi auch noch mit diesem Ansinnen durch, so geht für die Mitgliedstaaten jede verbliebene Motivation verloren, mit ihren jeweiligen Budgets auszukommen. Auf dem Spiel steht dann das Vertrauen der Anleger in den Euro. Dafür ist die ökonomische Stärke des Währungsraums ebenso bedeutsam wie das Zutrauen in seine Schuldentragfähigkeit. Wachsende Haftungsrisiken mindern dieses Vertrauen.
Hohe Haftungsrisiken für Deutschland
Das Nachsehen hätte Deutschland als (noch) wirtschafts- und bonitätsstärkste Nation mit dem größten Anteil am EU-Haushalt – und entsprechenden Haftungsrisiken. Diese addieren sich ja noch zu den ausstehenden Gefahren etwa aus der Griechenland-Rettung, dem Europäischen Stabilitätsmechanismus () oder den Salden aus „Target2“, dem Zahlungssystem innerhalb des Euro, mit dessen Hilfe nationale Notenbanken Geldüberweisungen abwickeln.
Doch Deutschlands Steuerzahler haben keine Lobby. Einen schwachen Hoffnungsschimmer liefert zwar das Bundesverfassungsgericht, das Deutschlands Zustimmung zum EU-Fonds für rechtens erklärt hatte, zugleich aber klarmachte, eine Hilfe dieser Art müsse eine Ausnahme bleiben. Doch bei von der Leyen, die ihr Amt dem Vorschlag des französischen Staatspräsidenten verdankt, und Haushaltskommissar Hahn laufen Macron und Draghi sicherlich offene Türen ein – den mit der Lizenz zur erneuten Schuldenaufnahme verbundenen Machtzuwachs für Brüssel werden sie kaum verschmähen.
Ob von Bundeskanzler Olaf Scholz Unterstützung zu erwarten ist, ist mindestens ungewiss. Er sieht die Europäische Union schon lange auf dem Weg in eine gemeinsame Finanzpolitik. Und die Grünen im Europaparlament hatten schon vor Monaten gefordert, dass die Finanzströme aus Brüssel in die Mitgliedstaaten nicht abreißen dürften, selbst wenn die wirtschaftlichen Pandemiefolgen überwunden wären.
Bleibt noch Finanzminister Christian Lindner. Dessen Partei hat ihre Wähler seit Aufnahme der Amtsgeschäfte in der Ampel oft genug mindestens ernüchtert. Jetzt wäre die Gelegenheit da, etwas davon wieder gutzumachen.