Mit großen Ankündigungen versucht der britische Premier, sein Amt zu retten. Doch die Kritik an seinen Lockdown-Partys ist groß. Mögliche Nachfolger stehen schon bereit.
Der britische Premierminister Boris Johnson holt zum Gegenschlag aus. Nach einer katastrophalen Woche, in der er sich nur halbherzig für Partys in der Downing Street während des Lockdowns entschuldigte und immer mehr seinen Rücktritt fordern, kämpft der Premier um seine Zukunft. An diesem Wochenende waren die britischen Medien gefüllt mit einem Programm, mit dem er seine altbewährte Strategie für Krisenzeiten einschlägt: Schuldige feuern und mit bombastischen Ankündigungen eine goldene Zukunft versprechen. So sollen die Wählerinnen und Wähler das Desaster der Vergangenheit vergessen.
Die ihm wohlgesonnene Boulevardzeitung The Mail on Sunday führt das Sammelsurium des überstürzten Notprogramms auf: Johnson werde "Rücktritte entgegennehmen" von denen, die für das Chaos in der Downing Street verantwortlich gewesen seien. Er werde sein Kabinett umbilden, möglicherweise gar den als arrogant verschrienen Jacob Rees-Mogg absägen, werde am 26. Januar sämtliche Corona-Maßnahmen beenden und die große Freiheit für das Land verkünden. Zudem werde in der Downing Street ein "Kriegsraum" eingerichtet, damit er persönlich die Krise des Gesundheitssystems NHS steuern könne. Ebenso will er das Thema der Flüchtlingsboote über den Ärmelkanal vom Innenministerium an sich ziehen. Außerdem soll sein Minister Michael Gove endlich das ohnehin verspätete Programm zum so oft angekündigten "Levelling-up" vorstellen, mit dem der Lebensstandard der benachteiligten Wahlkreise angehoben werden soll.
Sein ehemals getreuer Minister Liam Fox fleht in der Mail on Sunday, das Land werde erst jetzt – nach Corona – erkennen, welche wirkliche Politik Johnson umsetzen werde. "Wir sollten mit unserem Urteil warten."
Das sehen viele Abgeordnete allerdings anders, die an diesem Wochenende in ihre Wahlkreise gefahren sind und dort mit der Wut der Öffentlichkeit konfrontiert wurden. "Ich habe bereits 1.000 E-Mails bekommen und 80 Prozent davon fordern Johnson's Rücktritt", sagte etwa der Abgeordnete Andrew Bridgen der Sunday Times. Mehr als die Hälfte der Mitglieder der konservativen Partei wollen Johnson aus dem Amt, wie die Website Conservative Home zeigt. Nach einer Umfrage von YouGov plädieren 63 Prozent der Öffentlichkeit für seinen Rücktritt und 41 Prozent konservative Wähler. Die Sonntagszeitung The Sunday Times behauptet, bereits 35 konservative Abgeordnete hätten einen Brief eingereicht, in dem sie ein Misstrauensvotum fordern. Bei 54 solcher Protestbriefe müsste sich Johnson diesem Votum stellen. Könnte er dann nicht die Hälfte der konservativen Abgeordneten hinter sich vereinigen, wäre es mit seiner Karriere vorbei. Die Parteimitglieder wählten dann unter mindestens zwei Kandidaten einen neuen Parteivorsitzenden und Premierminister. Gewänne Johnson die Abstimmung allerdings, hätte er sich für mindestens ein Jahr gerettet. Die Abgeordneten müssen also vorsichtig kalkulieren, welche Mehrheiten sich bilden.
Das Problem für Johnson: Nach Angaben der Sunday Times stammen mindestens sieben der bisherigen Protestbriefe aus Wahlkreisen des "roten" Nordens. Dies sind gerade die Wahlbezirke, die Johnson mit dem Versprechen eines erfolgreichen Brexits von Labour für seine Partei gewinnen konnte. Die Wählerinnen aber fühlen sich verraten, weil sich Johnson nicht als der "Kumpel" entpuppt, für den sie ihn gehalten haben. Vielmehr scheint er zur verachteten "Elite" zu gehören, Teil von "die da oben" zu sein. Seine Wohnung lässt er mit goldenen Tapeten renovieren. Und während die Öffentlichkeit einen strengen Lockdown einhalten musste, Familienmitglieder ihre sterbenden Großeltern nicht besuchen durften, sie nicht gemeinsam an Trauerfeiern teilnehmen durften, hieß es in Downing Street "Hoch die Tassen". Johnson, so wird in den Medien kolportiert, habe seine Mitarbeiter gar aufgefordert, ab und zu "mal Dampf abzulassen".
Am Freitag hörte die Öffentlichkeit schockiert, dass selbst in der Nacht vor den Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Prinz Philip in der Downing Street gefeiert und getanzt wurde. Es war die Woche, in der offizielle Trauer in Großbritannien verkündet worden war und Königin Elisabeth II. wenige Stunden später allein in der Kirche um ihren Ehemann trauerte. Nicht einmal ihre Jahrzehnte lange "Lady in Waiting" hatte sie begleiten dürfen. Und weitere Details wurden bekannt. Etwa, dass für die Partys extra ein Weinkühlschrank gekauft wurden. Freitags gab es den "Friday-Wine Evening". Mitarbeiter hätten ihren Rausch auf Bänken in den Büros ausgeschlafen.
In den letzten Tagen tanzte eine Gruppe von Männern, als Johnson verkleidet, zu Rockmusik vor dem Regierungssitz. Der Tweet wurde 4,3 Millionen Mal angesehen. Johnson ist zum Gespött der Öffentlichkeit und für seine Partei zur Belastung geworden.
Hätte er sich am vergangenen Mittwoch wenigstens ehrlich entschuldigt, als er sich vor dem Parlament erhob. Doch die Briten durchschauten gleich, dass er mit der juristisch kniffligen Entschuldigung die Schuld von sich wegschob. Kurze Zeit später, so schreiben die britischen Medien, habe sich Johnson im Kreis von Abgeordneten darüber echauffiert, warum er die Schuld anderer habe auf sich nehmen müssen.
Jetzt warten alle auf einen Untersuchungsbericht der Ministerialbeamtin Sue Gray, die die Regelverstöße von "Partygate" untersuchen soll. Sie ist allerdings keine unabhängige Person, sondern Angestellte der Regierung. Sie berichtet direkt an Johnson, der dann selbst entscheiden kann, was geschieht. Er kann ihren Bericht – für eine wirklich unabhängige Untersuchung – an Lord Geidt weiterleiten, der bereits seine Eskapaden mit der Wohnungsrenovierung untersucht hat. Schon jetzt ist klar, dass Gray voraussichtlich keine Straftaten wird nachweisen können. Auch weil das Haus in der Downing Street mit seinem Garten sowohl Büro- als auch Privatsphäre vereint. Da es sich mittlerweile nach Zählung des Daily Express um 15 Partys handelt, schafft Gray ihren Bericht auch nicht mehr diese Woche. Gerade deshalb hofft Johnson, dass er zwar kritisch formuliert sein wird, aber ihm letztlich einen Persilschein ausstellt und er wieder einmal eine Krise übersteht.
Doch sein abwartendes Verhalten könnte ihm zum Verhängnis werden. Viele Abgeordnete sind bereit, einen Misstrauensbrief zu schreiben, wollen aber vorher sehen, was Gray aufdeckt und wie sich Johnson verhält. Bleibt er angeschlagen, könnte also schlagartig eine Flut von Protestbriefen bei der Partei landen.Viel hängt auch davon ab, wie sich die potenziellen Nachfolger von Johnson verhalten, allen voran der Schatzkanzler Rishi Sunak und die Außenministerin Liz Truss.
Sunak fehlte am Mittwoch, als sich Johnson vor dem Parlament entschuldigte. Der Schatzkanzler hatte sich auf eine nebensächliche Geschäftsreise nach Devon verabschiedet, um in dem Vabanquespiel um Johnson kein falsches Signal zu geben. Stellt er sich demonstrativ hinter Johnson, färbt der Skandal auf ihn ab. Zeigt er eine Geste des Protests, wird im Verrat vorgeworfen. Etwa 46 Prozent der Mitglieder der konservativen Partei meinen, Sunak wäre mittlerweile ein besserer Premierminister als Johnson. Der Sohn einer indischen Einwandererfamilie studierte in Oxford und Standford und stieg nach einer Tätigkeit bei Goldman Sachs und einem Hedgefonds 2015 in die Politik ein. Bisher war er getreuer Gefolgsmann von Johnson, unterstützte den Brexit und versucht, demonstrativ gute Haushaltspolitik im Sinne von Margaret Thatcher umzusetzen. Gerade dadurch macht er sich im Norden Englands unbeliebt. Dort kämpfen die Leute mit steigenden Lebenshaltungskosten. Sie wollen keinen Schatzkanzler, der selbst "stinkreich" ist. Sunaks Frau ist die Tochter eines Milliardärs aus Indien. Manche Wähler werfen ihm vor, dass er nicht wisse, wie das "normale Volk" denke.
Eine neue "Eisener Lady"
Wesentlich bodenständiger wirkt da die zweite Kandidatin für die Nachfolge von Johnson: die jetzige Außenministerin Liz Truss. Die 46 Jahre alte Politikerin stammt aus Leeds, ihre Herkunft hört man an ihrem Akzent. Sie verfolgt ehrgeizig ihre Karriere in der Partei, wechselte deshalb von einer EU-Anhängerin unter David Cameron in eine Mitstreiterin von Johnson für einen harten Brexit. Sie war bereits Umwelt- und Justizministerin, Staatssekretärin im Schatzamt, dann Handelsministerin und jetzt Außenministerin. Sie spielt die neue "Eiserne Lady" im Sinne von Margaret Thatcher und ist besonders innerhalb der Partei beliebt.
Im Zweifel freut sich der Dritte, wer immer dies sein mag. Noch gibt es unter den Abgeordneten keine Mehrheit, die geschlossen einen Coup gegen Johnson organisieren würden. Dafür hat Johnson die Fraktion 2019 auch von Widersachern gereinigt. Aber das muss Sunak und Truss nicht stören. Sie müssen nur warten. Im Hintergrund sitzt der ehemalige Chefberater von Johnson, Dominic Cummings, der sich für seinen Rauswurf rächt, die Medien mit Enthüllungen über Johnson füttert und auf seinem Blog bereits angekündigte, dass er Johnson absägen werde. Selbst die Johnson einst wohlgesonnene Zeitung The Daily Telegraph greift die Geschichten auf. Egal, welches Rettungsprogramm Johnson für sich plant. Es ist unwahrscheinlich, dass er die Partei 2024 in die nächste Wahl führen wird. Ein Nachfolger wird viel Zeit brauchen, um das verloren gegangene Vertrauen in die Regierung zurückzuholen. Viel Geduld für Johnson bleibt nicht mehr.