Unter dem Mittelmeer ist das EU-Geld gut angelegt. 5000 Kilometer Kabel sollen demnächst die griechischen Inseln vom Festland aus mit Strom versorgen. Dann könnten dort die inneffizienten, mit Schweröl betriebenen Generatoren abgeschaltet werden. Das schützt das Klima, sorgt für saubere Luft und senkt die Stromkosten.
Im Jahr 2022 wird die EU-Kommission in vielen Fällen entscheiden müssen, ob mit dem Geld gut umgegangen wird. Es ist die Stunde der Wahrheit für das historische Konjunkturpaket, auf das sich die EU-Mitgliedstaaten angesichts der Pandemieschäden geeinigt haben – und das viele Regierungen als einmaliges Projekt in einer einmaligen Ausnahmesituation sehen, andere aber gern zum Vorbild machen würden für viele weitere Fonds.
Windparks ließen sich so finanzieren, Wasserstoff-Produktion oder Chip-Fabriken. Das würde die EU verändern.
Der Fonds hat Macht nach Brüssel verlagert, genauer gesagt: in die EU-Kommission. Das liegt nicht nur an den großen Summen, um die es geht, immerhin ist das Paket 750 Milliarden Euro schwer. Es liegt auch an der Methode, wie dieses Geld vergeben wird.
Um die übliche Bürokratie zu vermeiden, hat die EU ihr System auf den Kopf gestellt. Anstatt selbst Rechnungen zu übernehmen, vereinbart die EU-Kommission mit den Regierungen Ziele, die mit dem Geld erreicht werden sollen.
Was wie eine rein technische Änderung klingt, hat massive Auswirkungen. Die Kommission gibt die Verantwortung für Details ab, kann aber machtvoll in die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eingreifen.
Solange ihr die vorgelegten Ziele nicht passen, kann sie die Milliarden zurückhalten, die in den Ländern dringend gebraucht werden. Zusätzlich zu Investitionsplänen verlangt sie auch Reformpläne.
Troika mit anderen Vorzeichen
Die Methode erinnert ein wenig an die Troika, die nach der Finanzkrise 2008 vor allem gegen einen Staatsbankrott Griechenlands ankämpfte. Auch damals bekam das Land Kredite, die an Reformen gebunden waren.
Allerdings sind dieses Mal die Vorzeichen umgedreht: Die Länder sollen nicht sparen, sondern investieren. Sozialkürzungen und Privatisierungen schreibt die Kommission dieses Mal nicht vor.
Stattdessen stehen auf den Reformlisten Punkte zur Modernisierung der Verwaltung, zur Digitalisierung und zum grünen Umbau der Wirtschaft. So hat Italien in den letzten Wochen des Jahres eine überfällige Reform des Zivilrechts umgesetzt, das Straf- und Insolvenzrecht modernisiert und mit einem Dekret die Prozesse in der öffentlichen Verwaltung etwa bei Ausschreibungen beschleunigt.
In Griechenland wurde der Katastrophenschutz gestärkt. In Spanien stehen eine Renten- und eine Arbeitsmarktreform an. Beide sind kompliziert umzusetzen, der Druck aus Brüssel soll nun helfen.
Was vergleichbar ist mit der Troika-Politik: Die Reformagenda braucht die Zustimmung der Beamten aus Brüssel. Sie drücken der Politik in den Mitgliedstaaten damit ihren Stempel auf.
Grundlage dafür ist das „Europäische Semester“, bei dem die Kommission einmal jährlich die Wirtschaftspolitik der Regierungen untersucht und Reformen vorschlägt. Bisher kamen dabei unverbindliche Empfehlungen heraus. Nun ist viel Geld damit verknüpft.
Das kann gut funktionieren, wie das Beispiel der griechischen Inseln zeigt. Die EU schießt nicht nur Geld zu, sie verlangte auch ein vereinfachtes Vergabeverfahren. Dadurch konnten die Investitionen schneller beschlossen werden – gegen die Lobbyinteressen von Öllieferanten und Kraftwerksbetreibern.
„Bisher wurden die Reformempfehlungen der EU-Kommission an die Mitgliedstaaten selten beachtet“, sagt Nils Redeker von der Hertie School in Berlin. „Jetzt kann die Kommission die Auszahlung von Wiederaufbaugeldern erstmals an die Umsetzung von Reformen knüpfen.“
Viel Macht für Brüssel
Aber wie es zu solchen Reformen kommt, welche Seite sie vorschlägt, wer die Details festlegt – das bleibt im Dunkeln. Denn die Reform- und Investitionspläne entstehen im monatelangen Austausch zwischen den Regierungen und einer Taskforce der EU-Kommission. Veröffentlicht werden sie erst, wenn sie reif für die Genehmigung sind. Zwischenstände drangen bisher kaum nach außen.
Darum lässt sich schwer sagen, wie fair die Kommission die Pläne bewertet hat. Elf Kriterien müssen die Pläne erfüllen. So müssen sie eine positive Auswirkung auf den Arbeitsmarkt erwarten lassen und Maßnahmen enthalten, die den ökologischen Wandel und die Digitalisierung unterstützen.
Ob diese Anforderungen ausreichend erfüllt werden, ist aber immer auch eine Ermessensfrage, die am Ende von Taskforce-Beamten der Kommission beantwortet werden muss. Den Leitfaden, den sich die Beamten der Kommission für ihre Bewertung gegeben haben, veröffentlichten sie bisher nicht.
Die Abgeordneten des Europaparlaments würden gern genauer prüfen, wie die Kommission arbeitet. Doch dazu reichen die vorhandenen Informationen nicht aus, sagt Markus Ferber (CSU): „Es geht der Kommission darum, möglichst schnell möglichst viel Geld zu verteilen, um ihr eigenes Ansehen zu verbessern“, kritisiert er. „Die Kommission überschüttet uns mit Informationen. Aber die Informationen, die wir anfragen, bekommen wir nicht.“
Der Europäische Rechnungshof hat damit begonnen, einige der Entscheidungen der Taskforce nachzuvollziehen. Die Prüfer arbeiten sich dazu durch eine Masse an Sitzungsprotokollen und E-Mails, die zwischen Brüssel und den nationalen Regierungen hin und her gegangen sind. Mehr haben sie nicht, um zu bewerten, ob die Kommission ihre eigenen Maßstäbe eingehalten hat.
Bisher haben 22 der 27 Länder eine erste Zahlung bekommen, die in der Kommission als „Vorfinanzierung“ bezeichnet wird. 58 Milliarden Euro flossen bisher, etwa ein Drittel davon muss zurückgezahlt werden, der Rest nicht. Vor allen weiteren Zahlungen will die Kommission jeweils prüfen, ob die vereinbarten Reformen umgesetzt wurden.
Von den Ergebnissen wird abhängen, ob der Wiederaufbaufonds zum Vorbild für eine neue Wirtschaftspolitik der EU werden kann. Linke Politiker wünschen sich das, um in Klimaschutz oder strategische Industrieprojekte investieren zu können.
Konservative Parteien und die nordeuropäischen Staaten lehnen das ab. In der deutschen Koalition ist die FDP dagegen, SPD und Grüne dafür. Der Koalitionsvertrag bleibt an dem Punkt vage.
Freuen würde sich die Finanzindustrie. Denn, auch das ist neu, der Fonds wird über Schulden finanziert. Und die Investoren sind interessiert an den sicheren Anleihen, die dabei entstehen. Die entsprechenden Bonds waren im Sommer elffach überzeichnet – trotz der sehr niedrigen Renditen.
Christian Kopf, Anleihechef beim genossenschaftlichen Fondshaus Union Investment, erklärt das so: „Private Anleger weltweit suchen händeringend nach sicheren Kapitalanlagen.“
Investoren wie Kopf würden es begrüßen, wenn die EU auch dauerhaft neue Anleihen in großem Stil auf den Markt bringt. Damit könnten die EU-Anleihen „mittelfristig eine Alternative zu US-Staatsanleihen werden“. Eine dauerhafte Kreditfinanzierung des EU-Haushalts würde jedoch nach Ansicht von Kopf eine Änderung der Europäischen Verträge erfordern.
Ob die Investoren die Chance zu einer Fortsetzung bekommen, hängt von den Ergebnissen in den Mitgliedsländern ab. Wie gut die sind, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Aber erste Chancen und Probleme lassen sich schon jetzt erkennen.
Analysten verlieren den Überblick
Ein Problem ist die Geschwindigkeit. Damit ein Konjunkturpaket wirkt, darf es nicht zu spät kommen. Die neue Auszahlungsmethode kann für Geschwindigkeit sorgen – wenn auch die Verwaltung in den Ländern mitspielt.
Spanien war zwar schneller als alle anderen. Es hat als erstes Land eine zweite Tranche erhalten und will schon 2023 das Gros seiner 69,5 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Transfers ausgegeben haben. Dennoch sind die Unternehmen von langsamen Ausschreibungen genervt.
„Einige haben gedacht, sie müssten der Regierung nur ihren Plan vorstellen und würden gleich mit dem Geld nach Hause gehen“, sagt Chus Escobar, die für EAMPERSANDY die spanische Regierung bei der Entwicklung des Wiederaufbauplans beraten hat. Dabei dauerten gerade öffentliche Ausschreibungen immer ihre Zeit und müssten bestimmte Fristen einhalten.
In Italien sind es die Gemeinden, bei denen es an Personal und an Kompetenzen mangelt. 50 Milliarden Euro sollen auf Ebene der Kommunen ausgegeben werden. Aber diese sind möglicherweise gar nicht in der Lage, die Gelder schnell und effizient genug auszugeben. Helfen sollen ganze 1000 zusätzliche Beamte, deren Verträge bis zum Auslaufen des Fonds befristetet werden.
Schnell geht es immer dort, wo das EU-Geld in solche Projekte fließt, die ohnehin geplant waren. Zwar ist es nicht gern gesehen, nationale Mittel einfach durch EU-Mittel zu ersetzen. Denn dann kann es keinen zusätzlichen Konjunktureffekt geben.
Aber Projekte auszuweiten ist schon möglich. So fließen in Spanien die ersten Gelder in den 5G-Ausbau, Subventionen für E-Autos und die Isolierung von Häusern. Die Programme gab es schon vorher, jetzt wurden sie beschleunigt.
Welche Effekte das Konjunkturprogramm am Ende tatsächlich hatte, wird eine ökonomische Spurensuche. Denn den Überblick zu behalten ist schwierig. „Selbst wir finden uns in den Daten der Regierung zu den bereits geflossenen Geldern nicht zurecht, weil man dafür die Haushaltsabschlüsse der einzelnen Verwaltungen braucht“, sagt Escobar.
Der Europäische Rechnungshof sieht seine Aufgabe darin, die Bewertungen der Kommission zu untersuchen. Wie dann in den Mitgliedstaaten mit dem Geld tatsächlich umgegangen wird, muss dort kontrolliert werden.
Reformen lassen sich schwer diktieren
Auch die Reformen nachzuhalten ist nicht einfach. Allerdings gibt es mittlerweile einige Erfahrung darin, die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zu überwachen. Allein die erste Analyse der Reformen für Spanien enthält 52 Einzelmaßnahmen, die jeweils auf einer knappen Seite zusammengefasst werden.
Schwierig könnte es werden, wenn eine Regierung versucht, die Vorgaben zu umgehen. In manchen Ländern wie Italien werden viele Reformen nur per Verordnung umgesetzt, nicht per Gesetz. Dadurch würden sie sich auch schnell zurücknehmen lassen. „Kästchen abhaken“ nennt man es in der EU, wenn die Liste abgearbeitet wird, ohne dass die Regierung dahintersteht.
Ein ähnliches Problem kann entstehen, wenn die Regierung während des Reformprozesses wechselt. In Schweden führt die neue Ministerpräsidentin Magdalena Andersson eine Minderheitsregierung, ist also auf die Opposition angewiesen. Und diese fordert, den Wiederaufbauplan umzuschreiben.
Statt in die Strominfrastruktur für Wohnungen zu investieren, will sie das Geld für Ladesäulen, in der Pflege und für neue Jobs ausgeben. Allerdings würde so kaum die Vorgabe erfüllt, einen Großteil der Gelder für Digitalisierung und Klimaschutz zu verwenden.
Der Spielraum, den die Kommission bei ihren Bewertungen hat, könnte auch zu Vermischungen mit ungelösten Konflikten führen. Auffällig ist, dass sich Polen und Ungarn mit der Kommission noch nicht auf nationale Wiederaufbaupläne einigen konnten. Beide Länder liegen mit der Kommission im Dauerstreit.
Nutzt die Kommission ihre Macht aus? In den Regeln des Wiederaufbaufonds ist festgehalten, dass sich die Mitgliedstaaten zur Rechtsstaatlichkeit bekennen müssen, bevor sie Geld erhalten. Immerhin muss die korrekte Verwendung des Geldes gesichert sein. Wie konkret so eine Zusage sein müsste, ist aber umstritten.
Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki drohte der Kommission bereits: „Wenn sie den dritten Weltkrieg beginnen, werden wir unsere Rechte mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen.“ Typischerweise wäre das eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Dafür bräuchte es aber erst einmal einen Antrag und eine Ablehnung der Kommission.
In Deutschland gibt es noch ein ganz anderes Problem mit dem Fonds. Der große Vorteil der gemeinsamen Verschuldung in der EU sind die niedrigen Zinsen, denn die Anleihen gelten als ausfallsicher.
Allerdings ist das bei Bundesanleihen genauso. Auch Deutschland kann sich dafür bezahlen lassen, dass es sich Geld an den Finanzmärkten leiht. Es ist also gar nicht darauf angewiesen, sich für Investitionen Geld aus Brüssel zu holen.
Einen indirekten Nutzen hat Deutschland vom Wiederaufbaufonds trotzdem: Laut einem Diskussionspapier aus der EU-Kommission wird das Wachstum in Deutschland zwar nur relativ wenig von den Geldern aus Brüssel profitieren. Durch die Nachfrageeffekte aus anderen Ländern wird der Effekt aber mehr als verdoppelt.