Zitat von Gast am 8. Dezember 2023, 07:16 Uhr
Eine Analyse von Ulrich Reitz - „Letzter Schuss“: Spahn stellt die Machtfrage, die Antwort ist für Konservative bitter
Unions-Fraktionschef Friedrich Merz und sein Stellvertreter Jens Spahn imago/photothek© imago/photothek
Die Migration wird wieder, wie nach 2015, zur Mutter aller Fragen. Am Ende geht es darum, ob die demokratische Mitte es schafft, dieses komplexe Problem zu lösen. Zweifel sind erlaubt, nicht nur an der Ampelregierung.
Bemerkenswert unaufgeregt hat Jens Spahn einen bemerkenswert aufregenden Satz gesagt. Der stellt etwas wie ein Gesetz auf und aufregend ist er, weil es dem CDU-Politiker um nichts weniger als den Bestand der Demokratie in Deutschland geht.
Das drängendste innenpolitische Problem derzeit ist die Migration
„Entweder löst die demokratische Mitte die Migration oder die Migration löst die demokratische Mitte“ – auf.
Hinter Spahns Axiom steckt der Befund, dass es in der Bevölkerung inzwischen eine andere Mehrheit gibt als im Parlament. Diese Mehrheit rechts der Mitte wünscht sich die Lösung der drängendsten Probleme auf eine unideologische Art, mit Maß und Mitte. Und diese Mehrheit – bei den Wahlen in Bayern summierte sie sich auf knapp 70 Prozent, beinahe drei Mal so viel wie die Ampelparteien dort holten – glaubt inzwischen, dass Olaf Scholz und seine Leute dazu nicht in der Lage sind. Darum trägt sich jeder Fünfte mit dem Gedanken, die AfD zu wählen. Und die Wagenknecht-Partei ist noch gar nicht am Markt.
Das drängendste innenpolitische Problem derzeit ist die Migration, es besteht aus zwei Teilen: Der Einwanderung und der Integration. Der aktuelle Befund lautet: Die Einwanderung nimmt zu, die Integration nimmt ab. Letzteres führte zu der großen und Deutschland bewegenden Debatte über eingewanderten Antisemitismus aus islamischen Ländern.
Die Fakten zur Migration in Deutschland
Mehr als Zweidrittel der Migranten kamen aus islamischen Ländern. Davon die meisten aus Syrien, der Türkei, Afghanistan, Irak und Iran. Besorgniserregend und geradezu paradox ist die Entwicklung bei den Migranten aus der Türkei – denn es ist gut möglich, dass schon bald mehr Migranten aus der Türkei als aus Syrien nach Deutschland kommen.
Warum paradox? Weil die Türkei Nato-Land ist. Weil Deutschland mit der Türkei das einzige einigermaßen funktionierende Migrationsabkommen abgeschlossen hat. Dessen Sinn ist, dass die Türkei eine Funktion als „Türsteher“ für Migranten aus arabischen und afrikanischen Staaten nach Europa spielen soll – und spielt. Nun aber wandert der Türsteher aus – im vergangenen Monat waren es zum ersten Mal mehr als 10.000 Menschen. Die Anerkennungsquote liegt bei knapp fünf Prozent, was zur Folge hat, dass Deutschland mit der Türkei intensiv über die Rücknahme von 95 Prozent von deren Staatsbürgern hierzulande verhandeln muss. Staatsbürger, die vor Erdogan weggelaufen sind.
Also: Scholz muss mit Erdogan verhandeln, Oppositionelle von Erdogan zurückzunehmen. Man kann sich vorstellen, wie schwierig das wird. Und wie teuer. Es ist jedenfalls das nächste große Migrationsproblem, was auf die deutsche Politik zurollt. Auf den Kanzler und die Außenministerin.
Baerbock macht Klimaaußenpolitik
Aber: Das jüngste große Ding, das Annalena Baerbock vorgestellt hat, war nicht eine Strategie zur Lösung der Migrationskrise, sondern eine auf 70 Seiten niedergelegte Strategie für eine „Klimaaußenpolitik“. Viel Geld soll ausgegeben werden zur Minderung der Klimafolgen in besonders betroffenen Ländern des so genannten „globalen Südens“. Kein Wunder, dass große Teile der Bevölkerung den Eindruck gewinnen können, die Bundesregierung, die Grünen vor allem, lebten auf einem anderen Planeten als sie selbst. Zurück zu Spahn – und zu Friedrich Merz und Markus Söder und Carsten Linnemann.
Sie sagen alle dasselbe: Dass die Politik Probleme lösen müsse, sonst kämen die Radikalen mit ihren beiden stärksten Vertretern. Es sind zwei Frauen – Alice Weidel und Sahra Wagenknecht. Von rechts und links nehmen sie die grüne Migrationspolitik in die Zange, die, bevor die Grünen dazu die Gelegenheit bekamen, Angela Merkel betrieben hat. Was wichtig ist, weil es auf die Glaubwürdigkeit der Union durchschlägt.
Spahn sagt im Hinblick auf Recht und Ordnung und Sicherheit und Leitkultur, nicht die AfD sei das Original (das halten liberalere Parteifreunde ihm vor), sondern „wir sind das Original“.
Richtig daran ist: Es stimmte tatsächlich einmal – Merz und der Bundestagspräsident Norbert Lammert redeten schon über eine „deutsche Leitkultur“, da gab es die AfD noch gar nicht. Was Spahn allerdings ausblendet – mit der Kanzlerschaft von Merkel ab 2005 kam diese Debatte an ihr Ende und darum kann die Union die Meinungsführerschaft für „Leitkultur“ erst wieder für sich beanspruchen, wenn sie die Merkel-Zeit diesbezüglich als Irrtum abhakt. Das aber schafft sie (noch?) nicht, und die AfD hält ihr das in so gut wie jeder Migrationsdebatte im Bundestag auch vor. Spahn sagt, er werde permanent auf der Straße darauf angesprochen, es ist die größte Wunde der Union.
Spahn stellt die Machtfrage
Der Einbruch der Wirklichkeit in eine Welt, in der Parteiprogramme für die Realität gehalten werden, betrifft also nicht nur die Ampelparteien. Und man kann Spahn zugutehalten, dass er eine bittere Realität für die Union einmal offen ausspricht: Wenn das so weitergehe mit der Union und der Union in Bündnissen mit linken Parteien, „dann ist es irgendwann auch mit uns vorbei“. Was damit gesagt ist: Schwarz-Grün und Schwarz-Rot sind nicht nur eine Chance – als Machtoption – sondern mindestens ebenso sehr: eine Gefahr. Die nächste Koalition mit einem Unionskanzler müsse darum „ohne Formelkompromisse“ auskommen, denn: „Das ist unser letzter Schuss.“
Der Kriegsreporter Paul Ronzheimer von der “Bild”-Zeitung hat Spahn dessen klare Sätze entlockt. Vielleicht entwickelt man, wenn man wie Ronzheimer gerade zurück ist aus Gaza, einen klareren Blick auf die Dinge, auf die es politisch ankommt.
Wie begrenzt man die Migration auf tatsächliche Flüchtlinge? Wie bekommt man einen zwielichtigen Islam inklusive Erdogans Propheten aus deutschen Schulen und Moscheen in Deutschland wieder heraus? Wie verhindert man die Einbürgerung von Antisemiten? Wie schafft man es, dass Arbeit sich wieder lohnt? Wie kriegt man eine bezahlbare Klimapolitik hin? Überhaupt: Wie geht man mit Steuerzahlers Geld richtig um?
Das sind derzeit die drängendsten Fragen (auf diesem Portal merken wir Journalisten das an der Frequenz und dem dringlichen Ton unserer Leserpost). Beantworten muss diese Fragen jede Bundesregierung, ganz gleich, wer Kanzler ist. Die amtierende Regierung, das zeigen Wahlen wie auch die Demoskopie, hat mit kaum einer ihrer Antworten die Bürger überzeugen können. Das ist am Ende: gefährlich.