Die Aussichten werden besser.© dpa
Deutschlands Geschäftsmodell steckt in der Krise. Wohin man auch sieht, in den vergangenen Monaten hat sich Pessimismus breitgemacht. In Gefahr sei dieses Modell, sagte Industriepräsident Siegfried Russwurm noch vor Kurzem im Fernsehen. Der Chef des Ifo-Instituts, Clemens Fuest, fordert Änderungen daran. Die „Deindustrialisierung“ fürchten sie alle: SPD-Chef Lars Klingbeil, Covestro-Chef Markus Steilemann und die Ökonomen der Deutschen Bank. Auch der Blick von außen verdunkelt sich: Der weltweit angesehene Wirtschaftshistoriker Adam Tooze glaubt, dass es für die deutsche Wirtschaft „schlecht oder sogar besonders schlecht aussieht“.
Da muss Deutschland einerseits gut überlegen, wo es künftig seine Rohstoffe herbekommt. Mindestens genauso wichtig aber ist die Frage, wofür Deutschland künftig noch Rohstoffe braucht: Was wird die Bundesrepublik produzieren? Wie soll das Land in Zukunft noch Geld verdienen – das Geld, das es braucht, um seine alternde Bevölkerung zu versorgen und die angehäuften Staatsschulden zu bedienen?
Deutschland ist teure Energie gewohnt
Hier kommt ein bisschen Grund zum Optimismus: Deutschlands Perspektiven sind vielleicht besser, als es in dem schwierigen Jahr 2022 scheint. Drei Gründe zur Hoffnung gibt es – und am Ende trotzdem noch viel zu tun.
Das erste bisschen Optimismus stammt aus der simplen Betrachtung der Lage in der bestehenden Industrie. Obwohl Strom und vor allem Gas in den vergangenen Monaten sehr teuer geworden sind, ist die Produktion insgesamt kaum zurückgegangen.
Das hat nicht zuletzt zwei Ursachen, die eng zusammenhängen: Erstens ist es nicht so, dass Deutschland vor der Ukrainekrise ein Billigenergieland gewesen wäre. In Europa gab es schon lange Länder mit günstigerem Gas, in den USA war es noch viel billiger. Und über den Strompreis klagte die Industrie schon lange, er sei einer der weltweit höchsten. Nun stellen sich zwei Dinge heraus: Energieintensive Betriebe waren schon immer trotz der hohen Energiepreise hier, einige können dann doch halbwegs damit umgehen (wenn auch nicht alle). Und auch in Branchen, die allgemein als energieintensiv gelten, ist längst nicht jeder einzelne Betrieb ein großer Strom- oder Gasverbraucher. Insgesamt machen die gefährdeten Betriebe offenbar einen kleineren Teil der deutschen Wirtschaft aus, als man befürchten musste – und ihre Probleme übertragen sich auch nicht ungebremst auf die übrigen Unternehmen.
„Hohe Innovationsfähigkeit, hohes Know-how“
Gleichzeitig hat Deutschland immer noch einige Stärken, was die Automatisierung angeht. Die Verknüpfung von Maschinen, großen industriellen Produkten und intelligenter Software – da ist Deutschland nach wie vor ganz vorne dabei. Industriepräsident Siegfried Russwurm klingt wieder optimistischer: „Deutschlands Modell der Spezialisierung auf hochwertige, technologisch führende Industriegüter und damit verbundene Dienstleistungen war immer wieder Schocks ausgesetzt – und ist schon oft totgesagt worden. Auch dieses Mal wird dies trotz aller Risiken nicht zutreffen“, sagt er. Und: „Die Unternehmen beweisen immer wieder, dass sie sich in der Summe flexibel auf neue Chancen und Gefahren einstellen und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten können.“
Auch Christian Klein, Chef des Software-Konzerns
SAP, will nicht in den Pessimismus einstimmen. „Deutschland hat sehr gute Voraussetzungen, um auch im nächsten Jahrzehnt eine führende Stellung in der Weltwirtschaft zu behalten“, sagt er. „Das liegt an der in Deutschland immer noch hohen Innovationsfähigkeit durch großes technologisches Know-how, vor allem auch in den weiterhin international sehr starken Industriebranchen wie Mobilität, Maschinenbau oder Chemie. Und es liegt am hohen Verständnis für die globale Vernetzung.“
Der Westen rückt zusammen
Was aber, wenn man diese Maschinen künftig vielleicht nicht mehr so gut in alle Länder verkaufen kann, zum Beispiel nicht mehr nach China? Da kommt das zweite bisschen Optimismus – nicht allzu viel, aber immerhin ein bisschen. Es ist das Gute im Schlechten, und es manifestiert sich zum Beispiel in den Chipwerken, die Intel und Infineon demnächst in Deutschland bauen wollen. Der Punkt dahinter ist folgender: Wenn Deutschland und Europa von China unabhängiger werden wollen, dann wird das eine oder andere an Produktion auch hier im Land stattfinden. Seien es Computerchips oder Batteriezellen, Arzneimittelwirkstoffe oder Solarpanels: Auch das muss produziert werden. Nicht alles davon bringt viele Arbeitsplätze, aber an Arbeit mangelt es Deutschland sowieso nicht. Das eine oder andere bringt wenigstens Gewinn ins Land – und sorgt dafür, dass Deutschland seinerseits weniger Geld für Importe ausgibt.
Insgesamt wird dieses neue Geschäftsmodell Deutschland nicht reicher machen. Das zeigt sich heute schon daran, dass die Chip- und Batteriezellwerke nur mit milliardenschweren Subventionen in Betrieb gehen können. Manches wird also Staatsgeld kosten, anderes wird für die Verbraucher teurer werden – am Ende ist sicher: Wenn die internationale Spezialisierung nicht mehr greift, dann ist der Wohlstand kleiner. Zu tun gibt es in diesem Prozess aber gar nicht so wenig.
Die Branche der Zukunft: Pharma
Drittens, und da ist wieder ein größeres bisschen Zuversicht fällig: Deutschland hat durchaus die eine oder andere Branche, die in den kommenden Jahren etwas erreichen kann. Der Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen hat gerade erst aufgelistet, wie sich Deutschlands unterschiedliche Industriebranchen in den vergangenen 20 Jahren entwickelt haben. Es ist ein Überblick über die relative Wettbewerbsfähigkeit – und zwar nicht in theoretischen Kenngrößen, sondern gemessen an tatsächlichen Exporten. Dabei stellt sich heraus: Schon vor Corona hatte Deutschlands Pharmaindustrie viel an Boden gewonnen. Allein in den Zehnerjahren sind Deutschlands Arzneiexporte um 60 Prozent gestiegen.
Von der Öffentlichkeit nicht sonderlich beachtet, hat es Deutschland seit den Neunzigerjahren offenbar allmählich geschafft, wieder an die große Zeit als Apotheke der Welt anzuknüpfen. Nicht mit den altbekannten, simplen Medikamenten, die bis jetzt oft aus Indien und China kommen. Sondern an der Spitze der Forschung – mit Medikamenten, die auch China aus Deutschland importiert. Dieser Erfolg geschah ganz ohne industriepolitische Lautsprechereien, nicht zuletzt deshalb, weil pharmazeutische und biotechnische Forschung in den vergangenen 30 Jahren öffentlich nicht mehr so verpönt war wie in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Dieser Aufschwung hat auch Biontech mit nach oben gezogen, das jetzt seinerseits für Erfolge sorgt und wiederum die Grundlage dafür legt, dass noch mehr Unternehmen entstehen können.
Weitere Hoffnungen richten sich auf grüne Geschäftsmodelle rund um Wasserstofftechnik und andere Technologien, die für den Klimaschutz an Bedeutung gewinnen. Wenn Deutschland in Sachen Klimaschutz Ernst macht, dann könnte das Land auch in diesen Bereichen an die Spitze der Technik kommen. „Klimaschutz kann und muss ein Geschäftsmodell sein“, sagt Industriepräsident Siegfried Russwurm. „Deutschland will rasch klimaneutral werden – das ist Herausforderung und Chance zugleich.“ Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum stimmt zu: „Beim Wasserstoff ist Deutschland noch top, aber US-Präsident Biden schielt schon darauf.“
Digitalisierung und Entbürokratisierung dringend nötig
Chancen gibt es also. Gleichzeitig muss Deutschland etwas dafür tun, dass aus all diesen Chancen wirklich künftiger Wohlstand wächst. „Wenn wir das jetzt verschlafen, dann kann es tatsächlich eng werden für den Industriestandort“, warnt Ökonom Südekum.
Die Rezepte sind nicht neu, aber trotzdem für den einen oder anderen immer wieder überraschend. SAP-Chef Christian Klein verweist rollengerecht auf die Bedeutung der Digitalisierung. Außerdem gehört dazu vor allem, der Innovation ihren Lauf zu lassen – das heißt: die Bildung stärken und bürokratische Fesseln lösen. Auch die Gesellschaft ist wichtig, wie die Entwicklung der Pharmaindustrie zeigt: Wenn die Bürger sich neuen Technologien zu sehr verschließen, geht es mit dem Land ebenfalls nicht aufwärts – oder wenn sie von vorneherein zu wissen glauben, dass Technik A einer Technik B völlig unterlegen ist. Selbst Digitales stößt in Deutschland noch oft auf Misstrauen.
Und wer ebenfalls nicht glauben darf, dass er besser weiß, wo es hingehen kann: die Regierung. Diesen Punkt macht selbst die Ökonomin Mariana Mazzucato, die große Verfechterin der Industriepolitik. Sie beschrieb fast auf den Tag genau vor zwei Jahren in der F.A.S., wie ein industriepolitisches Programm für Deutschland aussehen müsse – nämlich anders, als die Politik es jetzt schreibt. Derzeit nutze Deutschland eher seine bereits vorhandenen Werte, als neue zu schaffen, schrieb sie. Und sie forderte nicht etwa große Subventionen als Mittel einer deutschen Industriepolitik. Der Staat solle seine eigenen Aufträge als Nachfrager einsetzen. Nicht vorher schon definieren, welche Firma die beste ist, sondern als Kunde aus den Angeboten aller verschiedenen Wettbewerber das Beste auswählen.
Vielleicht braucht es auch gar nicht allzu viel Industriepolitik. „Wer weiß, ob die Politik die Güter trifft, die den Verbrauchern dann wichtig sind. Wir produzieren ja nur für die Verbraucher und für niemanden sonst“, warnt der Ökonom Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft. „Die Zukunftstechnologien sind oft die, mit denen man gar nicht rechnet.“
In diesem Sinn weiß niemand zuverlässig, mit welcher Technik Deutschland in den nächsten zwanzig Jahren sein Geld verdienen wird. Fest steht aber: Es gibt durchaus vielversprechende Ideen.