Berlin - Es ist ein Vorgang, von dem in Berlin kaum jemand weiß – der aber schon seit vielen Monaten läuft und der später einmal von großer Tragweite für den Alltag vieler Menschen sein wird. Gesucht werden Unternehmen, die für zwei Drittel des Streckennetzes neue S-Bahnen bauen und sie 15 Jahre im Auftrag des Landes Berlin betreiben. 2020 setzte der Senat das bisher größte Vergabeverfahren für den Nahverkehr in Gang, bei dessen Abschluss Aufträge für insgesamt acht Milliarden Euro warten. Jetzt haben Kritiker ihre Forderung nach einem Abbruch bekräftigt. „Die Ausschreibung der S-Bahn muss gestoppt werden“, sagte Jorinde Schulz vom Aktionsbündnis „Eine S-Bahn für alle“ während einer Diskussion bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. „Dafür braucht man Mut“ – aber es sei rechtlich möglich. Nach Jahren vertaner Zeit sollte endlich die Kommunalisierung der S-Bahn in Angriff genommen werden, so Schulz.
Der Startschuss fiel vor anderthalb Jahren. Bis Anfang November des vergangenen Jahres hatten Interessenten die Möglichkeit, erste Angebote einzureichen. Verbindliche Offerten sollen in diesem Jahr folgen. Im vierten Quartal 2022 soll dann laut Senat feststehen, wer die Fahrtzeuge für die insgesamt elf Nord-Süd- und Ost-West-Linien bauen und betreiben wird. Von 2027 bis 2034, so der Plan, sollen mindestens 1308 S-Bahnen-Wagen geliefert werden, die Eigentum des Landes Berlin werden.
Als Lehre aus der S-Bahn-Krise, die vor mehr als einem Jahrzehnt Großteile des Verkehrs lahmlegte, sei ein zuverlässiger Betrieb ein wichtiges Ziel, hieß es. Es gehe aber auch um Kosten. So werde der Wettbewerb „Monopolpreise“ der bundeseigenen Deutschen Bahn (DB) verhindern, dass Steuerzahler über 15 Jahre insgesamt 800 Millionen Euro sparen könnten. „Dafür ließen sich viele Schulen renovieren“, so eine Einschätzung. Das Land Berlin zahlt für jeden gefahrenen S-Bahn-Kilometer Geld, das ihm vom Bund überwiesen wird. Doch die Beträge, die derzeit dem DB-Unternehmen S-Bahn Berlin GmbH zukommen, seien „sehr ordentlich“ – sehr hoch, sagen Beteiligte.
Gewerkschafter, Linke, Sozialdemokraten und Menschen, die etwas gegen Privatisierungen haben, sehen das Vergabeverfahren unverändert kritisch. Sie wenden sich gegen die ihrer Ansicht nach drohende Zerschlagung und Privatisierung der S-Bahn. Zu den Protagonisten gehört auch das Bündnis „Eine S-Bahn für alle“, in dem die Neuköllner Linken-Politikerin Jorinde Schulz aktiv ist. Sie gab nun im Veranstaltungsraum „Helle Panke“ in Prenzlauer Berg ein Update.
Schulz teilt die prinzipielle Kritik, dass es sich um ein neoliberales Vorhaben handelt, das Kapitalinteressen den Weg ebnet, die Daseinsvorsorge und den klimafreundlichen Umbau der Mobilität gefährdet. In den vergangenen Jahren habe die S-Bahn GmbH, die derzeit für den S-Bahn-Verkehr in Berlin und Brandenburg zuständig ist, jährlich zweistellige Millionensummen an den DB-Konzern abgeführt, sagte sie. Verständlich, dass Privatfirmen scharf darauf seien, diese Gelder als Gewinne für sich zu verbuchen.
Weil die Ausschreibung mit den Teilnetzen Nord-Süd und Stadtbahn zwei Lose umfasst, drohe in der Tat eine Aufteilung des Systems auf mehrere Unternehmen, was bei Störungen und auch sonst einen enormen Abstimmungsbedarf mit sich bringen wird, so die Kritik. Schon jetzt sei eine „nicht unbeträchtliche Wettbewerbsbürokratie“ herangewachsen, in der zahlreiche Juristen und Berater Honorare vom Staat kassieren. Noch teurer seien die zu erwartenden Doppelstrukturen, die zum Beispiel deshalb entstehen, weil neue Zugbetreiber Werkstättenstandorte benötigen. Berichten zufolge sind derzeit Fredersdorf und Wannsee in der Diskussion.
Weitere, noch viel höhere Kosten drohen dem Land Berlin, wenn es nach der Zuschlagserteilung zu Problemen kommt wie derzeit anderswo mit Abellio. Das Unternehmen der niederländischen Staatsbahn NS, das nach Ausschreibungen auf bundesweit mehr als 50 Strecken den Regionalzugbetrieb aufgenommen hatte, geriet in die Bredouille und musste schließlich ein Schutzschirmverfahren beantragen. In Baden-Württemberg sprang das Land ein, in Nordrhein-Westfalen sollen nach einer Notvergabe die DB und andere Zugbetreiber den Verkehr übernehmen. Dem Staat entstehen hohe Kosten – auch weil er die Löhne und Gehälter zahlt, wie Schulz sagte. „Das Ausschreibungsabenteuer endete mit drohendem Chaos und zusätzlichen Zuschüssen.“
In Berlin sendet Rot-Grün-Rot unterschiedliche Signale. Zum einen soll das Vergabeverfahren weitergeführt werden, steht im Koalitionsvertrag. Zum anderen ist dort ebenfalls zu lesen: „Die Koalition verfolgt unabhängig von der Ausschreibung das Ziel einer Kommunalisierung der S-Bahn. Sie tritt in zügige Verhandlungen mit dem Bund und der Deutschen Bahn zum Kauf der S-Bahn ein und entwickelt bis Herbst 2022 einen Fahrplan zum Aufbau eines eigenen Eisenbahnverkehrsunternehmens.“ Dabei gibt es ein solches Unternehmen im Landesbesitz schon: die Behala. In den Grundsätzen für die Regierungsarbeit wird kein Datum mehr genannt. „Eine S-Bahn für alle“ fordert, keine Zeit mehr zu verschwenden und die Kommunalisierung rasch zu beginnen.
Bei der Diskussion mit Jorinde Schulz ging es um mögliche Formen des Widerstands gegen die bisherige Politik, wobei ein Streik wohl ausscheidet. Die Linke sehe das Verfahren ebenfalls kritisch, habe sich in der Vergangenheit all zu oft „Sachzwangargumenten“ gebeugt. Eine Debattenteilnehmerin sagte, dass die staatliche S-Bahn Berlin GmbH „kein vertrauenswürdiges Unternehmen“ sei, obwohl sie sich in öffentlichem Besitz befindet. Ein Fahrdienstleiter von DB Netz befürchtet Probleme, wenn nach einer Kommunalisierung nicht auch die Infrastruktur ins Landeseigentum übergeht. Ein einheitliches S-Bahn-Unternehmen sei wichtig, so die allgemeine Einschätzung. Kein „Tochterfirmenzirkus“ mehr, forderte Schulz.
Unterdessen mehren sich die Hinweise darauf, dass sich zentrale Befürchtungen der Kritiker wohl nicht bewahrheiten werden. Einschätzungen zufolge hat das Konsortium DB/Stadler/Siemens gute Chancen, den Zuschlag für beide Teillose zu bekommen. Das DB-Unternehmen S-Bahn Berlin GmbH punktet mit Erfahrungen und Werkstätten, die beiden Fahrzeugproduzenten wiederum haben die derzeit jüngste S-Bahn-Generation entwickelt – was sie als Basis für eine Neuentwicklung nehmen können.
Damit bliebe der gesamte S-Bahn-Betrieb in Berlin und Brandenburg auch künftig unter staatlicher Ägide. Ob außer dem Bahnhersteller Alstom weitere Unternehmen an dem laufenden Vergabeverfahren teilnehmen, ist unklar. Zu hören ist, dass der französische Zugbetreiber Transdev kein Angebot abgegeben hat. Ob MTR aus Hongkong dabei ist, gilt als ungewiss. „Was in Berlin geschieht, wirkt auf private Unternehmen abschreckend“, hieß es in der Branche. Jorinde Schulz und ihre Mitstreiter werden es gern hören.