Hermann Binkert, Geschäftsführer des Sozialforschungsinstituts INSA, war bei den Unionsparteien eingeladen, um zur politischen Lage in Deutschland zu referieren. Auf Anfrage von WELT AM SONNTAG bestätigte Binkert seinen Befund: In einer repräsentativen Umfrage seines Instituts mit 2130 Befragten aus dem Januar hielten gut 20 Prozent der West- und 30 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie für bedroht. Frauen sind besorgter als Männer. Etwa 15 Prozent, also fast ein Sechstel der Befragten, erwägen zudem, aus Deutschland auszuwandern.
Eine repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts YouGov für diese Zeitung ermittelte außerdem, dass derzeit 46 Prozent der Deutschen der Ansicht sind, man könne in Deutschland nicht mehr offen seine Meinung sagen. 50 Prozent halten dies nach wie vor für möglich, vier Prozent machten keine Angaben.
Dass das Grundgesetz durch Anti-Corona-Maßnahmen der Exekutive und durch die Einschränkung einiger Grundrechte ausgehöhlt würde, ist ein Dauervorwurf aus der Corona-Protestbewegung. Man müsse bei dem Ergebnis der Aussage dennoch vorsichtig sein, sagt Wolfgang Merkel, ehemaliger Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB): Die Frage nach der Diktatur „unterscheidet nicht zwischen einer grundlegenden Ablehnung der Demokratie als Idee und System und einer aktuellen Unzufriedenheit mit den demokratischen Institutionen“.
Dass die Unzufriedenheit mit Exekutive und Parlamenten gegenwärtig erheblich sei, bestätigten allerdings auch andere Untersuchungen zum Institutionenvertrauen, so Merkel weiter. „Es droht tatsächlich die Gefahr, dass sich eine Vielzahl von Menschen von der Demokratie abwendet, weil sie die Corona-Maßnahmen der Regierung nicht mehr als Pandemiebekämpfung, sondern als Erziehungsmaßnahmen wahrnehmen“, sagt Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP).
„Diktatur ist natürlich übertrieben“, sagt die Politikerin der Linken, Sahra Wagenknecht. „Aber die Willkür und Selbstverständlichkeit, mit der mittlerweile in Deutschland für einen Teil der Bevölkerung elementare Grundrechte außer Kraft gesetzt werden, wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen.“ Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte, man müsse die Befunde „sehr ernst nehmen“.
„Je länger die Pandemie dauert, desto stärker erlebt unsere Gesellschaft einen Stresstest“, findet auch der neue Co-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, im Interview mit dieser Zeitung. Nouripour sagt: „Da wird individuelles Misstrauen auf eine Gesamtlage projiziert.“ Er sehe bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen einen harten Kern, der Systemopposition von rechts propagiere. „Aber wir müssen im Dialog bleiben mit denen, die Kritik an Corona-Maßnahmen oder berechtigte Fragen zur Klima- und Energiepolitik haben.“
Die Umfrage von YouGov ergab außerdem: 18 Prozent der Bundesbürger sind grundsätzlich bereit, sich an Protesten zu beteiligen, wenn die Corona-Maßnahmen noch länger andauerten. In der Altersgruppe der 35- bis 44-Jährigen haben das fast 30 Prozent vor.
YouGov wollte wissen, bei welchen Themen sich die Deutschen vorstellen könnten, an Demonstrationen teilzunehmen. 16 Antworten standen zur Auswahl. Mehrfachnennungen waren möglich. Demnach können sich 28 Prozent der Befragten vorstellen, gegen steigende Energiepreise, aber auch gegen Rassismus auf die Straße zu gehen, und 22 Prozent gegen die Inflation. 31 Prozent sagten allerdings, sie könnten sich nicht vorstellen, von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch zu machen. YouGov befragte 2056 Personen über 18 Jahre zwischen dem 1. und 3. Februar.
Die Stimmungslage im Land hat auch Auswirkungen auf die Zustimmung zur neuen Ampel-Regierung. Bundeskanzler Olaf Scholz hat seit Beginn des Jahres einen Absturz seiner Beliebtheit von 17 Prozentpunkten erleben müssen – ein beispielloser Einbruch. Nach den Erhebungsdaten mehrerer Institute büßt die rot-grün-gelbe Koalition sogar bereits ihre Mehrheit ein.